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Schauspiel von Bertolt Brecht
Schwarzwälder Bote, 25. Februar 2023
(von Christoph Holbein)
Bertolt Brechts Schauspiel „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ am Landestheater Tübingen in einer erfrischend kurzweiligen Inszenierung
„Wir sind Ui…“ singt es in klatschbarer Rhythmik und eingängiger Melodie durch den Theater-Saal: Die Verführbarkeit der Masse und der alten politischen Eliten übersetzt Regisseur Dominik Günther bei seiner Interpretation des Schauspiels „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ von Bertolt Brecht am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) gut komponiert in plakativ eindringliche und verständliche Bilder. Sandra Fox hat dafür als Bühne die Szenerie eines Supermarktes gewählt: Kristallisationspunkt von Krisenerscheinungen wie Inflation und Absatzschwierigkeiten. Vor den Regalen und im Spiel mit den Einkaufswagen entwickelt sich eine intensive Inszenierung des Stückes, mit dem Brecht den Aufstieg Adolf Hitlers transformiert in das Chicagoer Gangster-Milieu und aufzeigt, wie die wirtschaftlichen Machtverhältnisse das Aufblühen des Faschismus begünstigten und sich eine Gestalt wie Hitler zum „Führer“ aufschwingen konnte.
Regisseur Günther setzt bei seiner Inszenierung auf aussagekräftige Körperlichkeit der Protagonisten. Arturo Ui – erfrischend interpretiert vom neuen Ensemble-Mitglied Emma Schoepe – präsentiert sich zunächst in ungelenken, kurzatmigen, ja fast epileptischen Bewegungen, um dann nach entsprechendem Training im neuen Outfit in überzeugende Haltung vor sein Publikum zu treten. Und Hannah Jaitner als dessen Leutnant, verdreht und verbiegt sich spinnenhaft tänzerisch und zelebriert damit ihre Figur in dämonischer Intensität. Wie auch das gesamte Ensemble überzeugt mit guter Mimik, in seinen Bewegungen und Gesten fein komponiert. Die Regie untermalt das mit einem ganz zarten, fast satirischen Humor. Die Gewaltszenen stilisieren die Brutalität und wirken gerade deshalb besonders intensiv. Dazwischen gibt es bestens choreografierte gesangliche und tänzerische Szenen, die den gesamten Auftritt verstärken. Das peppt das Brecht-Stück auf, ohne zu dick aufzutragen und zu übertreiben.
Gut und sogar ein bisschen amüsant umgesetzt ist die verführerische Rattenfängerei des Systems von Ui, der mit allen Mitteln immer mehr Macht und Einfluss erringt und dabei auch nicht davor zurückschreckt, treue Weggefährten aus dem Weg zu räumen. Die musikalische Gestaltung von Leo Schmidthals in ihrer Schlager-Show-Manier untermalt diese Verführungs- und Manipulationsmechanismen. Das steigert sich in ausladenden, fast gebärdensprachigen Gesten nahezu ins Opern- und Oratorienhafte und mündet in eine starke Schluss-Sequenz, die noch einmal die vielen Bildern und Assoziationen aufgreift.
Am Ende des Abends nach dem Applaus steht der Appell des Ensembles – vorgelesen von Emma Schoepe -, Hass und Hetze entschieden entgegenzutreten, denn wie formulierte es Bertolt Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
Reutlinger Generalanzeiger, 20. Februar 2023
(von Thomas Morawitzky)
Das LTT hat Bertolt Brechts »Arturo Ui« in den Supermarkt geschleppt und lässt ihn singen.
Seichte Musik, Berieselung – das ist der Anfang. In den Regalen liegen Waren, kaum erkennbare Konserven, verschwommen wie eine Fata Morgana. Angestellte gleiten vorüber, beklagen die Marktlage, eine Stimme belfert durch die Lautsprecheranlage. Dem Geschäft mit Karfiol (österreichisch für Blumenkohl) geht es schlecht, neuen Schwung möchte ein gewisser Arturo Ui bringen, dessen Methoden allerdings kriminell sind.
Bertolt Brecht hat »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« 1941 im Exil geschrieben. Das Stück erzählt mit offen zutage liegenden Parallelen vom Aufstieg Hitlers, versetzt ins Milieu US-amerikanischer Gangster. Das Landestheater Tübingen hat diese Szene nun wiederum versetzt – in einen Supermarkt. Dazu gibt es nicht nur die seicht perlende Cocktail-Musik, notorisch einst unter dem Markennamen Muzak, sondern Schlager und Pop, bezwingend, grenzenlos euphorisch: »Schwarzsehen ist Verrat!«
Wie faschistisch sind Konsum und Popmusik? Die Frage ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Das LTT greift sie auf und verwandelt Brechts berühmte Parabel auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten fast schon in ein Musical, mit starken Gesangsparts. »Ui!«, singen die Gangster im Chor, und man weiß: Jetzt ist es zu spät.
Gemordet wird hier stilecht mit Gummihandschuh und Plastiktüte in leuchtendem Orange. Der alte Dogsborough – ein unverkennbarer Wiedergänger Hindenburgs, gespielt von Susanne Weckerle – hängt bald schon schlapp im Einkaufswagen, mit starr entschlafenem Gesicht, mit Schlips und weinroter Weste. Der Gitterwagen, vorne offen, wirkt wie ein Kinderwagen; der vormals einflussreiche Politiker wird darin auf der Bühne hin und her gekarrt. Andere Politiker, Funktionäre, Faschisten tänzeln um ihn her, schieben andere Wagen, kriechen unter die Regale.
Sandra Fox hat das Tübinger Ensemble in Arbeitsuniformen gesteckt und mit Namensschildern versehen. Rolf Kindermann, Konrad Mutschler, Dennis Junge und Stephan Weber spielen jeweils mehrere Rollen. Lucas Riedle, der als Reedereibesitzer Sheet, Kassierer, Gemüsehändler und in einer Reihe weiterer Rollen auftreten sollte, erkrankte; Justin Hibbeler übernahm seine Parts. Andreas Guglielmetti und Gilbert Mieroph spielen Gangster, Hannah Jaitner ist Ernesto Roma, die rechte Hand des obersten Verbrechers.
Auch Arturo Ui selbst wird in Dominik Günthers Inszenierung von einer Frau gespielt, Emma Schoepe, die in Tübingen zuvor schon in »Ökozid« und »Sex« zu sehen war, einem ebenfalls von Günther inszenierten Ensemble-Konzert. Hier nun agiert sie manisch, getrieben. Ihre Bewegungen wirken abgehackt, scheinen seltsamen Zwängen zu unterliegen; sie verbiegt sich, grimassiert, trippelt wie verhext auf der Stelle. Und anfangs sitzt sie in der leuchtenden Kiste, in die sich ein Supermarktregal verwandelt hat. Erst mit ein wenig Übung scheint diese tatsächlich gestörte Figur reale Konturen anzunehmen – und Macht zu gewinnen.
Leo Schmidthals hat den ersten Teil des Stückes mit gleichmäßiger Kaufhausmusik unterlegt; nur hier und da mischen sich dunkle Klänge ein, dann elektronische Beats zwischen Krautrock und Eurodisco. Nun geht es bergauf im Gemüsegeschäft, nun tanzt man zum Takt, ist Arturo Ui ganz angekommen. Ist Blondine, Erlöser, Superstar, springt aufs Podest und singt. »Das Erste, was nottut«, sagt er, »ist Einigkeit. Zweitens: Opfer.« – »Opfer!«, echoen seine Gefolgsleute. Rolf Kindermann hat einen Auftritt als Richter mit stark rollendem R; es geht um Brandstiftung. Ein Toter liegt in einer Warentruhe. Und bald schon darf, wer Arturo Ui nicht zustimmt, gehen, während hinter seinem Rücken eine Plastiktüte ausgefaltet wird; und die Plastiktüten werden mehr.
Der Weg vom Deutschland der Weimarer Republik zu den Gangstern Amerikas und dann weiter in die gut beschallten Konsumtempel der Gegenwart scheint mitunter ein weiter zu sein, das Stück läuft Gefahr, zu einer allzu ironischen Farce zu geraten – aber das Experiment glückt eben doch, auf ungemein makabre Weise.
Schwäbisches Tagblatt, 20. Februar 2023
(von Peter Ertle)
Warum die zahlreichen Uis nicht aufgehalten werden, ist gerade heute wieder sehr die Frage. Das LTT wählt für Brechts Gangster-Parabel einen Supermarkt und weiß vor allem nach der Pause zu gefallen – mit einem furiosen Artisto Arturo.
Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ scheint wie geschrieben für die heutige Zeit – und ist als theatrales Analysemittel doch nicht hinreichend. Weil Brecht nach der für ihn typischen Auffassung den diktatorischen Popanz vor allem als brauchbaren Büttel des Großkapitals sah. Irgendwann schwingt er sich dann zum Herrscher auf. Ist was dran. Reicht als Erklärung aber nicht.
Dominik Günthers Inszenierung aktualisiert Brechts Grundgedanken, indem er den in Absatzschwierigkeiten steckenden Gemüsehändler-Trust zu einem Supermarkt wandelt – den Sandra Fox aus Stellwänden und Stoffen gebaut hat, die mit einer Regallandschaft bedruckt sind. Dazwischen fahren Einkaufswagen hin und her. Das Gangster-Spektakel, das Brecht im Prolog ankündigt, ist es erst mal nicht. Sondern (Exposition): ein einflussreicher Politiker, der mit extra für ihn stark verbilligten Aktien in einer Reederei des Gemüsetrusts einsteigt, dem er dafür eine Anleihe für den Bau von Kaianlagen gewährt, ahnend, dass die nie gebaut werden. Das zieht sich. Man versteht, warum dieses Stück, das Brecht 1941 für den amerikanischen Markt übersetzen ließ, bei einer Probelesung dort durchfiel – obwohl es in Chicago spielt und sich an Al Capone genauso orientiert wie an Hitler. Hollywood und Brecht mögen grundsätzlich inkompatibel sein, für dieses Stück gilt das zweimal.
Es wird aber schon noch turbulent, auch im LTT, nach der Pause nimmt die Inszenierung Fahrt auf. Zeugen sterben. Der Politiker wird erpresst. Wie er, immer bleicher und apathischer, schließlich vollkommen ausgeliefert nur noch im Einkaufswagen-Rollstuhl herumgeschoben wird: Die Performance, vor allem das Gesicht Susanne Weckerles, wird in Erinnerung bleiben. Justin Hibbeler wiederum gibt nicht nur eine schöne Leich, er ist in all seinen Rollen sehr präsent – und hat die meisten. Wie er, am Premierenabend für den erkrankten Lucas Riedle eingesprungen, sich das innerhalb von zwei Tagen draufgeschafft hat, wissen nur die Götter.
Die Versuche, das Stück musikalisch ein bisschen aufzulockern, wirken erst ein bisschen unterfordernd. Später finden sie (Musik: Leo Schmidthals) den Dreh und stellen einen super Musical-Mix aus Rap und Oper (Dennis Junge: Der hat ein Organ!) auf die Bühne, der Text wird genau eingetaktet.
Andere Höhepunkte: Rolf Kindermann als Richter. Freisler hin oder her, das geht einem in dieser Beiläufigkeit, Glätte und Kälte durch Mark und Bein. Schauerlicher wird’s nur noch, als eine Rede Arturos, also die Stimme Emma Schoepes, tontechnisch mit einer Männerstimme doppelbedunkelt wird: der Führer, simultan immer mit dabei.
Damit wären wir beim Arturo: Der spielt hier nicht sein Außen so, dass der Zuschauer das Innen mitsieht, wie es meistens bei Figuren der Fall ist, je realistischer, desto mehr. Nein, sein Außen ist sein gänzlich nach außen gestülptes Innen, dann wird sozusagen nochmal ein Brennglas draufgelegt. Genauer gesagt, ist es oft sogar das Innen, das die Schauspielerin auf der Suche nach der Figur in sich selbst findet und es der Figur leiht. Also nochmal eine Brechung. Wer einen Diktator sucht, wie wir ihn zu kennen glauben, wird enttäuscht. Dafür gibt es einen manchmal an der Grenze zum Overkill siedelnden Reichtum an differenzierter Sprunghaftigkeit und facettenhafter Genauigkeit auf einer Parallelspur. Manchmal kommt es zu Kreuzungen, Teilmengen. Dann hört man diese Figur tatsächlich bellen, sieht sie förmlich in den Teppich beißen, werden aus den Arm- und Handbewegungen Zitatbruchstücke, Eckchen einer uns bekannten Redengestik. Und sonst: Ui als Nervösling, Zappelarturo, bebend vor Ungeduld und Gier. Ein Furor. Die berühmteste Arturo-Ui-Inszenierung der deutschen Theatergeschichte, jene Heiner Müllers aus dem Jahr 1995, war auch exzentrisch auf den in dieser Rolle wahnsinnigen, heute gerne als Kommissar durchs TV geisternden Martin Wuttke zugeschnitten.
Was die Stückentstehung angeht: Walter Benjamin berichtet schon 1934 von Arbeiten am Stoff. Die Hauptsache wurde dann aber 1941 innerhalb von drei Wochen im finnischen Exil runtergeschrieben. Brecht schob es also lange vor sich hin, dann wollte er es rasch hinter sich bringen. Und dann ließ er es liegen. Premiere war erst nach Brechts Tod. In welchen Jahren er dran schrieb, lässt sich am breiten Raum ablesen, den die Dullfeet(=Dollfuß)-Episode im Stück einnimmt: Nach dem Anschluss Österreichs 1938.
Ja, in diesem Stück können allen Figuren und vielen geschilderten Geschehnissen reale Menschen (von Hindenburg bis Goebbels) und Vorkommnisse (etwa der Reichstagsbrand) des NS-Reichs zugeordnet werden. Die Aufschlüsselung führt leicht dazu, das Ganze nur noch als Schlüsselstück über die Hitlerei zu deuten, was ein Missverständnis wäre. Man muss keinen Röhm aus der Figur des Roma machen, in der sich Hannah Jaitner sehenswert durch den Abend schreit, eine viel unverstelltere Fratze als ihr Capo Ui. Der gemeinsame Machtrausch wird in einem Bruder(schwester)kuss besiegelt: Ein starkes Gespann. Bis, zack, Roma hinterrücks gemeuchelt wird, hier nicht in einer Nacht der langen Messer, sondern unter einer übergestülpten Plastiktüte. Gilbert Mierophs Givola agiert nicht nur hier als versierter Todesengel, favorisiertes Werkzeug: rote Tüten. Das passt zum Blut so gut wie zum Blumenhändler. Auch Kollege Giri (Andreas Guglielmetti) ist so ein sanft lächelnder Tunichtgut. Konrad Mutschlers Butcher, man hört es schon am Namen, ist die handfestere Variante.
Hitler ließ sich für seine Reden von einem Schauspieler unterweisen, hier übernimmt das der Supermarkt-Verkäufer (Stephan Weber, wieder mal ein wunderbar komisches Element) mit dem Hinweis, er sei ja auch Schauspieler. Stimmt. Und Prima V-Effekt. Dann wird Stehen und Gehen geübt, dass es eine Freude ist. Jahrzehntelang war es im Zusammenhang mit Arturo Ui eine unvermeidlich gestellte Frage, ob lustig in dem Zusammenhang erlaubt oder verharmlosend ist. Das dürfte heute durch sein.
Aber vielleicht sind Brechts Stücke (im Gegensatz zu seinen Gedichten) mit ihrem Hang zum lehrhaft-lustigen Gangstertum als Allegorie aufs Großkapital insgesamt zu holzschnittartig und einseitig. Es fehlt etwas. Es fehlt nicht ganz. Immer dann, wenn Arturo Ui vom Glauben, vom Vertrauen spricht, immer dann wenn er mit einem „Wir sind Ui“ den Einpeitscher des Kollektiven gibt, ist es da. Aber warum gelingt diese Manipulation? Was ist das, diese immer rückwärts gewandte Sehnsucht nach Zugehörigkeit, einfachem Weltbild, Glauben und einer starken Führerhand, unter der man sich aufgehoben fühlt? Die jeweiligen Ideale (Arier, großrussisches Reich, America first, whatever) und Feindbilder (vorzugsweise: Juden, Intellektuelle, linke Politiker, die sogenannte Elite) mögen austauschbare Software sein für die ewigmenschliche Hardware Bereicherung, Machtstreben, Korruption, Erpressung, Feigheit, Verführbarkeit, Angst. Bloß: Gab es schon immer. Kein Ungetüm namens Kapitalismus hat sie hervorgebracht.
Unterm Strich
Das richtige Stück für die heutige Zeit, in der Politiker als Demokratieverächter Erfolg haben und EU-Politiker mit Taschen voller Geld gekauft werden? Nein, passt nicht ganz. Die LTT-Inszenierung schleppt sich bis zur Pause, danach wird’s stellenweise richtig gut. Ein bis in jede Faser geladener Arturo Ui inmitten eines Supermarkt-Bühnenbilds und einer Geschichte von Gier, Erpressung, Korruption. Und Lügen – die in ihrer Dreistigkeit doch hinter der gegenwärtigen Realität zurückbleiben.
DIE DEUTSCHE BÜHNE, 18. Februar 2023
(von Manfred Jahnke)
In seinem „bandenstück“, das er auch „historienfarce“ nannte, schiebt Bertolt Brecht die Geschichte vom Gangster Al Capone und die von Adolf Hitler übereinander. Die Parallelen der beiden in „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (1941 im dänischen Exil niedergeschrieben, aber erst 1957 veröffentlicht) sind verblüffend. Brecht schreibt eine Satire über eine Gesellschaft, die sich nach Schutz und damit nach einem starken Mann sehnt – und so faschistische Verhältnisse schafft. Wenn auch die Geschichte von Al Capone im Zentrum steht, stellt sie Brecht durch Projektionen zugleich in dem historischen Kontext mit dem aufhaltsamen Aufstieg Hitlers – am Ende einer Szene. Gleichwohl hat man dem Stück immer wieder Verharmlosung des Nationalsozialismus vorgeworfen, weil Brecht Ui (Hitler) zu einer Marionette, zu einem Hampelmann machen würde.
Nachdem der historische Background der Ui-Geschichte immer mehr in Vergessenheit gerät, scheint es konsequent, die Projektionen – „Eine Schrift taucht auf“, heißt es im Stücktext – wegzulassen und „Ui“ in das zu verwandeln, was es im Original nicht ist: ein Parabelstück. So macht es Dominik Günther am LTT Tübingen und er macht noch mehr: Er verwandelt den „Ui“ in ein Hampelmannnummer. Was zunächst einmal Sinn macht. In einer enthistorisierten Fassung agieren lauter „Nummern“, die Szene wird zur Show und dazu werden Schlager gesungen (Musik: Leo Schmidthals) – und dies in einem Stück, in dem Brecht bewusst keine Songs oder chorische Einlagen vorgesehen hat. Die Kehrseite aber ist, wie dann die Gewalt, die von Ui und seinen Leuten ausgeht, sinnlich wird, wenn alles in einer Instantmusiksoße aufgelöst ist?
Sandra Fox hat für die Szenerie das Ambiente eines Supermarkts geschaffen – es geht ja um das Karfiolgeschäft (Gemüse). Gemalte Kulissen in unterschiedlicher Höhe dominieren den Raum. Manche sind an massive Podeste gebunden – ein kleines, in dem sich immer wieder Ui kauert, ein großes, in dem die Leichen wie von Dullfeet aufgebahrt erscheinen. Andere lassen sich wie Vorhänge hin- und herbewegen. Einkaufswägen und offene Konservendosen, aus denen geräuschvoll gelöffelt wird, sowie rote Plastiktüten, mit denen missliebige Mitbürger erstickt werden, genügen als Requisiten. Supermarkt als Ausdruck kapitalistischer Höchstnorm zu begreifen – gerade in Zeiten der Inflation – scheint auf der Hand zu liegen. Aber in Bezug auf die Vorgänge, die Brecht erzählt, fragwürdig: Sie werden in diesem Raum verkleinert.
Um dem Publikum die Orientierung zu erleichtern, trägt das Ensemble Schilder mit den Rollennamen an ihrem Kostüm. Günther besetzt Arturo Ui mit Emma Schoepe. Roma mit Hannah Jaitner und Dogsborough mit Susanne Weckerle (also die Schlüsselrollen mit Frauen); Giri mit Andreas Guglielmetti und Givola mit Gilbert Mieroph (Goebbels und Göhring) mit älteren Schauspielkollegen. Beide – Giri und Givola – strahlen eine starke Ruhe aus. Sie führen die Morde schon aus, aber dezent im Hintergrund, gerundete Menschen, die nichts so schnell aus der Balance bringt. Da agieren die Frauen anders: Während Hannah Jaitner dem Roma (also Röhm, der alte Kamerad von Hitler, den diesen dann umbringen ließ) begeisterte Nuancen gibt und fast schwärmerisch die Freundschaft zu Ui lebt, wirkt Emma Schoepe wie eine Aufziehpuppe, die Vertrauen einfordert und wenn sie dieses nicht bekommt, mit hyperaktiven Bewegungen reagiert – wie ein Hampelmann.
Nach der Schauspielerszene, die sich in dieser Inszenierung auf eine billige Parodie theaterpädagogischer Übungen reduziert (im Original geht es um die Sprache politischer Rhetorik in der Rede des Antonius in „Julius Cäsar“ von Shakespeare), und einer neuen Perücke wirkt sie in ihren öffentlichen Auftritten überzeugender. Sobald es „privat“ wird, fällt sie in dieses hyperaktive Hampelmannverhalten zurück. Darüber hinaus lässt Günther die Rolle in der Männlichkeitsform. Behauptete Männlichkeit und hyperaktive Körperlichkeit geraten in Widerspruch. Durch diesen wird die Figur klein oder „verfremdeter“: umso vernichtender fällt das Urteil über die Gesellschaft aus, die diesen aufhaltsamen Aufstieg mitinszeniert.
„Wir sind Ui“ singt der Schlagerstar Ui. Sind wir nun alle Faschisten? Machtgierige, asoziale Leute, die über Leichen gehen? Oder Leute, die immer nur wegschauen? Damit aufhaltsame Aufstiege befördern? Die Botschaft in Tübingen bleibt zwiespältig. Oder erzählt die Inszenierung von Domenik Günther von der Verführungskraft der Schauspielkunst? Neben den schon genannten Spieler:innen führen in unterschiedlichen Rollen Stephan Weber, Rolf Kindermann, Konrad Mutschler, Dennis Junge und Justin Hibbeler, der einen Tag zuvor für einen erkrankten Kollegen eingesprungen ist, nur holzschnittartig ihre Schauspielkunst vor.