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Schauspiel von Bertolt Brecht
Reutlinger Generalanzeiger, 20. Februar 2023
(von Thomas Morawitzky)
Das LTT hat Bertolt Brechts »Arturo Ui« in den Supermarkt geschleppt und lässt ihn singen.
Seichte Musik, Berieselung – das ist der Anfang. In den Regalen liegen Waren, kaum erkennbare Konserven, verschwommen wie eine Fata Morgana. Angestellte gleiten vorüber, beklagen die Marktlage, eine Stimme belfert durch die Lautsprecheranlage. Dem Geschäft mit Karfiol (österreichisch für Blumenkohl) geht es schlecht, neuen Schwung möchte ein gewisser Arturo Ui bringen, dessen Methoden allerdings kriminell sind.
Bertolt Brecht hat »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« 1941 im Exil geschrieben. Das Stück erzählt mit offen zutage liegenden Parallelen vom Aufstieg Hitlers, versetzt ins Milieu US-amerikanischer Gangster. Das Landestheater Tübingen hat diese Szene nun wiederum versetzt – in einen Supermarkt. Dazu gibt es nicht nur die seicht perlende Cocktail-Musik, notorisch einst unter dem Markennamen Muzak, sondern Schlager und Pop, bezwingend, grenzenlos euphorisch: »Schwarzsehen ist Verrat!«
Wie faschistisch sind Konsum und Popmusik? Die Frage ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Das LTT greift sie auf und verwandelt Brechts berühmte Parabel auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten fast schon in ein Musical, mit starken Gesangsparts. »Ui!«, singen die Gangster im Chor, und man weiß: Jetzt ist es zu spät.
Gemordet wird hier stilecht mit Gummihandschuh und Plastiktüte in leuchtendem Orange. Der alte Dogsborough – ein unverkennbarer Wiedergänger Hindenburgs, gespielt von Susanne Weckerle – hängt bald schon schlapp im Einkaufswagen, mit starr entschlafenem Gesicht, mit Schlips und weinroter Weste. Der Gitterwagen, vorne offen, wirkt wie ein Kinderwagen; der vormals einflussreiche Politiker wird darin auf der Bühne hin und her gekarrt. Andere Politiker, Funktionäre, Faschisten tänzeln um ihn her, schieben andere Wagen, kriechen unter die Regale.
Sandra Fox hat das Tübinger Ensemble in Arbeitsuniformen gesteckt und mit Namensschildern versehen. Rolf Kindermann, Konrad Mutschler, Dennis Junge und Stephan Weber spielen jeweils mehrere Rollen. Lucas Riedle, der als Reedereibesitzer Sheet, Kassierer, Gemüsehändler und in einer Reihe weiterer Rollen auftreten sollte, erkrankte; Justin Hibbeler übernahm seine Parts. Andreas Guglielmetti und Gilbert Mieroph spielen Gangster, Hannah Jaitner ist Ernesto Roma, die rechte Hand des obersten Verbrechers.
Auch Arturo Ui selbst wird in Dominik Günthers Inszenierung von einer Frau gespielt, Emma Schoepe, die in Tübingen zuvor schon in »Ökozid« und »Sex« zu sehen war, einem ebenfalls von Günther inszenierten Ensemble-Konzert. Hier nun agiert sie manisch, getrieben. Ihre Bewegungen wirken abgehackt, scheinen seltsamen Zwängen zu unterliegen; sie verbiegt sich, grimassiert, trippelt wie verhext auf der Stelle. Und anfangs sitzt sie in der leuchtenden Kiste, in die sich ein Supermarktregal verwandelt hat. Erst mit ein wenig Übung scheint diese tatsächlich gestörte Figur reale Konturen anzunehmen – und Macht zu gewinnen.
Leo Schmidthals hat den ersten Teil des Stückes mit gleichmäßiger Kaufhausmusik unterlegt; nur hier und da mischen sich dunkle Klänge ein, dann elektronische Beats zwischen Krautrock und Eurodisco. Nun geht es bergauf im Gemüsegeschäft, nun tanzt man zum Takt, ist Arturo Ui ganz angekommen. Ist Blondine, Erlöser, Superstar, springt aufs Podest und singt. »Das Erste, was nottut«, sagt er, »ist Einigkeit. Zweitens: Opfer.« – »Opfer!«, echoen seine Gefolgsleute. Rolf Kindermann hat einen Auftritt als Richter mit stark rollendem R; es geht um Brandstiftung. Ein Toter liegt in einer Warentruhe. Und bald schon darf, wer Arturo Ui nicht zustimmt, gehen, während hinter seinem Rücken eine Plastiktüte ausgefaltet wird; und die Plastiktüten werden mehr.
Der Weg vom Deutschland der Weimarer Republik zu den Gangstern Amerikas und dann weiter in die gut beschallten Konsumtempel der Gegenwart scheint mitunter ein weiter zu sein, das Stück läuft Gefahr, zu einer allzu ironischen Farce zu geraten – aber das Experiment glückt eben doch, auf ungemein makabre Weise.
Schwäbisches Tagblatt, 20. Februar 2023
(von Peter Ertle)
Warum die zahlreichen Uis nicht aufgehalten werden, ist gerade heute wieder sehr die Frage. Das LTT wählt für Brechts Gangster-Parabel einen Supermarkt und weiß vor allem nach der Pause zu gefallen – mit einem furiosen Artisto Arturo.
Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ scheint wie geschrieben für die heutige Zeit – und ist als theatrales Analysemittel doch nicht hinreichend. Weil Brecht nach der für ihn typischen Auffassung den diktatorischen Popanz vor allem als brauchbaren Büttel des Großkapitals sah. Irgendwann schwingt er sich dann zum Herrscher auf. Ist was dran. Reicht als Erklärung aber nicht.
Dominik Günthers Inszenierung aktualisiert Brechts Grundgedanken, indem er den in Absatzschwierigkeiten steckenden Gemüsehändler-Trust zu einem Supermarkt wandelt – den Sandra Fox aus Stellwänden und Stoffen gebaut hat, die mit einer Regallandschaft bedruckt sind. Dazwischen fahren Einkaufswagen hin und her. Das Gangster-Spektakel, das Brecht im Prolog ankündigt, ist es erst mal nicht. Sondern (Exposition): ein einflussreicher Politiker, der mit extra für ihn stark verbilligten Aktien in einer Reederei des Gemüsetrusts einsteigt, dem er dafür eine Anleihe für den Bau von Kaianlagen gewährt, ahnend, dass die nie gebaut werden. Das zieht sich. Man versteht, warum dieses Stück, das Brecht 1941 für den amerikanischen Markt übersetzen ließ, bei einer Probelesung dort durchfiel – obwohl es in Chicago spielt und sich an Al Capone genauso orientiert wie an Hitler. Hollywood und Brecht mögen grundsätzlich inkompatibel sein, für dieses Stück gilt das zweimal.
Es wird aber schon noch turbulent, auch im LTT, nach der Pause nimmt die Inszenierung Fahrt auf. Zeugen sterben. Der Politiker wird erpresst. Wie er, immer bleicher und apathischer, schließlich vollkommen ausgeliefert nur noch im Einkaufswagen-Rollstuhl herumgeschoben wird: Die Performance, vor allem das Gesicht Susanne Weckerles, wird in Erinnerung bleiben. Justin Hibbeler wiederum gibt nicht nur eine schöne Leich, er ist in all seinen Rollen sehr präsent – und hat die meisten. Wie er, am Premierenabend für den erkrankten Lucas Riedle eingesprungen, sich das innerhalb von zwei Tagen draufgeschafft hat, wissen nur die Götter.
Die Versuche, das Stück musikalisch ein bisschen aufzulockern, wirken erst ein bisschen unterfordernd. Später finden sie (Musik: Leo Schmidthals) den Dreh und stellen einen super Musical-Mix aus Rap und Oper (Dennis Junge: Der hat ein Organ!) auf die Bühne, der Text wird genau eingetaktet.
Andere Höhepunkte: Rolf Kindermann als Richter. Freisler hin oder her, das geht einem in dieser Beiläufigkeit, Glätte und Kälte durch Mark und Bein. Schauerlicher wird’s nur noch, als eine Rede Arturos, also die Stimme Emma Schoepes, tontechnisch mit einer Männerstimme doppelbedunkelt wird: der Führer, simultan immer mit dabei.
Damit wären wir beim Arturo: Der spielt hier nicht sein Außen so, dass der Zuschauer das Innen mitsieht, wie es meistens bei Figuren der Fall ist, je realistischer, desto mehr. Nein, sein Außen ist sein gänzlich nach außen gestülptes Innen, dann wird sozusagen nochmal ein Brennglas draufgelegt. Genauer gesagt, ist es oft sogar das Innen, das die Schauspielerin auf der Suche nach der Figur in sich selbst findet und es der Figur leiht. Also nochmal eine Brechung. Wer einen Diktator sucht, wie wir ihn zu kennen glauben, wird enttäuscht. Dafür gibt es einen manchmal an der Grenze zum Overkill siedelnden Reichtum an differenzierter Sprunghaftigkeit und facettenhafter Genauigkeit auf einer Parallelspur. Manchmal kommt es zu Kreuzungen, Teilmengen. Dann hört man diese Figur tatsächlich bellen, sieht sie förmlich in den Teppich beißen, werden aus den Arm- und Handbewegungen Zitatbruchstücke, Eckchen einer uns bekannten Redengestik. Und sonst: Ui als Nervösling, Zappelarturo, bebend vor Ungeduld und Gier. Ein Furor. Die berühmteste Arturo-Ui-Inszenierung der deutschen Theatergeschichte, jene Heiner Müllers aus dem Jahr 1995, war auch exzentrisch auf den in dieser Rolle wahnsinnigen, heute gerne als Kommissar durchs TV geisternden Martin Wuttke zugeschnitten.
Was die Stückentstehung angeht: Walter Benjamin berichtet schon 1934 von Arbeiten am Stoff. Die Hauptsache wurde dann aber 1941 innerhalb von drei Wochen im finnischen Exil runtergeschrieben. Brecht schob es also lange vor sich hin, dann wollte er es rasch hinter sich bringen. Und dann ließ er es liegen. Premiere war erst nach Brechts Tod. In welchen Jahren er dran schrieb, lässt sich am breiten Raum ablesen, den die Dullfeet(=Dollfuß)-Episode im Stück einnimmt: Nach dem Anschluss Österreichs 1938.
Ja, in diesem Stück können allen Figuren und vielen geschilderten Geschehnissen reale Menschen (von Hindenburg bis Goebbels) und Vorkommnisse (etwa der Reichstagsbrand) des NS-Reichs zugeordnet werden. Die Aufschlüsselung führt leicht dazu, das Ganze nur noch als Schlüsselstück über die Hitlerei zu deuten, was ein Missverständnis wäre. Man muss keinen Röhm aus der Figur des Roma machen, in der sich Hannah Jaitner sehenswert durch den Abend schreit, eine viel unverstelltere Fratze als ihr Capo Ui. Der gemeinsame Machtrausch wird in einem Bruder(schwester)kuss besiegelt: Ein starkes Gespann. Bis, zack, Roma hinterrücks gemeuchelt wird, hier nicht in einer Nacht der langen Messer, sondern unter einer übergestülpten Plastiktüte. Gilbert Mierophs Givola agiert nicht nur hier als versierter Todesengel, favorisiertes Werkzeug: rote Tüten. Das passt zum Blut so gut wie zum Blumenhändler. Auch Kollege Giri (Andreas Guglielmetti) ist so ein sanft lächelnder Tunichtgut. Konrad Mutschlers Butcher, man hört es schon am Namen, ist die handfestere Variante.
Hitler ließ sich für seine Reden von einem Schauspieler unterweisen, hier übernimmt das der Supermarkt-Verkäufer (Stephan Weber, wieder mal ein wunderbar komisches Element) mit dem Hinweis, er sei ja auch Schauspieler. Stimmt. Und Prima V-Effekt. Dann wird Stehen und Gehen geübt, dass es eine Freude ist. Jahrzehntelang war es im Zusammenhang mit Arturo Ui eine unvermeidlich gestellte Frage, ob lustig in dem Zusammenhang erlaubt oder verharmlosend ist. Das dürfte heute durch sein.
Aber vielleicht sind Brechts Stücke (im Gegensatz zu seinen Gedichten) mit ihrem Hang zum lehrhaft-lustigen Gangstertum als Allegorie aufs Großkapital insgesamt zu holzschnittartig und einseitig. Es fehlt etwas. Es fehlt nicht ganz. Immer dann, wenn Arturo Ui vom Glauben, vom Vertrauen spricht, immer dann wenn er mit einem „Wir sind Ui“ den Einpeitscher des Kollektiven gibt, ist es da. Aber warum gelingt diese Manipulation? Was ist das, diese immer rückwärts gewandte Sehnsucht nach Zugehörigkeit, einfachem Weltbild, Glauben und einer starken Führerhand, unter der man sich aufgehoben fühlt? Die jeweiligen Ideale (Arier, großrussisches Reich, America first, whatever) und Feindbilder (vorzugsweise: Juden, Intellektuelle, linke Politiker, die sogenannte Elite) mögen austauschbare Software sein für die ewigmenschliche Hardware Bereicherung, Machtstreben, Korruption, Erpressung, Feigheit, Verführbarkeit, Angst. Bloß: Gab es schon immer. Kein Ungetüm namens Kapitalismus hat sie hervorgebracht.
Unterm Strich
Das richtige Stück für die heutige Zeit, in der Politiker als Demokratieverächter Erfolg haben und EU-Politiker mit Taschen voller Geld gekauft werden? Nein, passt nicht ganz. Die LTT-Inszenierung schleppt sich bis zur Pause, danach wird’s stellenweise richtig gut. Ein bis in jede Faser geladener Arturo Ui inmitten eines Supermarkt-Bühnenbilds und einer Geschichte von Gier, Erpressung, Korruption. Und Lügen – die in ihrer Dreistigkeit doch hinter der gegenwärtigen Realität zurückbleiben.