Schauspiel von Bertolt Brecht
Schwarzwälder Bote, 25. Februar 2023
(von Christoph Holbein)
Bertolt Brechts Schauspiel „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ am Landestheater Tübingen in einer erfrischend kurzweiligen Inszenierung
Reutlinger Generalanzeiger, 20. Februar 2023
(von Thomas Morawitzky)
Das LTT hat Bertolt Brechts »Arturo Ui« in den Supermarkt geschleppt und lässt ihn singen.
Seichte Musik, Berieselung – das ist der Anfang. In den Regalen liegen Waren, kaum erkennbare Konserven, verschwommen wie eine Fata Morgana. Angestellte gleiten vorüber, beklagen die Marktlage, eine Stimme belfert durch die Lautsprecheranlage. Dem Geschäft mit Karfiol (österreichisch für Blumenkohl) geht es schlecht, neuen Schwung möchte ein gewisser Arturo Ui bringen, dessen Methoden allerdings kriminell sind.
Bertolt Brecht hat »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« 1941 im Exil geschrieben. Das Stück erzählt mit offen zutage liegenden Parallelen vom Aufstieg Hitlers, versetzt ins Milieu US-amerikanischer Gangster. Das Landestheater Tübingen hat diese Szene nun wiederum versetzt – in einen Supermarkt. Dazu gibt es nicht nur die seicht perlende Cocktail-Musik, notorisch einst unter dem Markennamen Muzak, sondern Schlager und Pop, bezwingend, grenzenlos euphorisch: »Schwarzsehen ist Verrat!«
Wie faschistisch sind Konsum und Popmusik? Die Frage ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Das LTT greift sie auf und verwandelt Brechts berühmte Parabel auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten fast schon in ein Musical, mit starken Gesangsparts. »Ui!«, singen die Gangster im Chor, und man weiß: Jetzt ist es zu spät.
Gemordet wird hier stilecht mit Gummihandschuh und Plastiktüte in leuchtendem Orange. Der alte Dogsborough – ein unverkennbarer Wiedergänger Hindenburgs, gespielt von Susanne Weckerle – hängt bald schon schlapp im Einkaufswagen, mit starr entschlafenem Gesicht, mit Schlips und weinroter Weste. Der Gitterwagen, vorne offen, wirkt wie ein Kinderwagen; der vormals einflussreiche Politiker wird darin auf der Bühne hin und her gekarrt. Andere Politiker, Funktionäre, Faschisten tänzeln um ihn her, schieben andere Wagen, kriechen unter die Regale.
Sandra Fox hat das Tübinger Ensemble in Arbeitsuniformen gesteckt und mit Namensschildern versehen. Rolf Kindermann, Konrad Mutschler, Dennis Junge und Stephan Weber spielen jeweils mehrere Rollen. Lucas Riedle, der als Reedereibesitzer Sheet, Kassierer, Gemüsehändler und in einer Reihe weiterer Rollen auftreten sollte, erkrankte; Justin Hibbeler übernahm seine Parts. Andreas Guglielmetti und Gilbert Mieroph spielen Gangster, Hannah Jaitner ist Ernesto Roma, die rechte Hand des obersten Verbrechers.
Auch Arturo Ui selbst wird in Dominik Günthers Inszenierung von einer Frau gespielt, Emma Schoepe, die in Tübingen zuvor schon in »Ökozid« und »Sex« zu sehen war, einem ebenfalls von Günther inszenierten Ensemble-Konzert. Hier nun agiert sie manisch, getrieben. Ihre Bewegungen wirken abgehackt, scheinen seltsamen Zwängen zu unterliegen; sie verbiegt sich, grimassiert, trippelt wie verhext auf der Stelle. Und anfangs sitzt sie in der leuchtenden Kiste, in die sich ein Supermarktregal verwandelt hat. Erst mit ein wenig Übung scheint diese tatsächlich gestörte Figur reale Konturen anzunehmen – und Macht zu gewinnen.
Leo Schmidthals hat den ersten Teil des Stückes mit gleichmäßiger Kaufhausmusik unterlegt; nur hier und da mischen sich dunkle Klänge ein, dann elektronische Beats zwischen Krautrock und Eurodisco. Nun geht es bergauf im Gemüsegeschäft, nun tanzt man zum Takt, ist Arturo Ui ganz angekommen. Ist Blondine, Erlöser, Superstar, springt aufs Podest und singt. »Das Erste, was nottut«, sagt er, »ist Einigkeit. Zweitens: Opfer.« – »Opfer!«, echoen seine Gefolgsleute. Rolf Kindermann hat einen Auftritt als Richter mit stark rollendem R; es geht um Brandstiftung. Ein Toter liegt in einer Warentruhe. Und bald schon darf, wer Arturo Ui nicht zustimmt, gehen, während hinter seinem Rücken eine Plastiktüte ausgefaltet wird; und die Plastiktüten werden mehr.
Der Weg vom Deutschland der Weimarer Republik zu den Gangstern Amerikas und dann weiter in die gut beschallten Konsumtempel der Gegenwart scheint mitunter ein weiter zu sein, das Stück läuft Gefahr, zu einer allzu ironischen Farce zu geraten – aber das Experiment glückt eben doch, auf ungemein makabre Weise.
Schwäbisches Tagblatt, 20. Februar 2023
(von Peter Ertle)
Warum die zahlreichen Uis nicht aufgehalten werden, ist gerade heute wieder sehr die Frage. Das LTT wählt für Brechts Gangster-Parabel einen Supermarkt und weiß vor allem nach der Pause zu gefallen – mit einem furiosen Artisto Arturo.