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Dramenfragment von Georg Büchner · 16+
Schwäbisches Tagblatt, 22. Februar 2022
Gewalt-Fantasie im Theaterlabor
(von Achim Stricker)
Ein Bruch-Stück: Christiane Pohle inszeniert Georg Büchners „Woyzeck“ am LTT als Fragment-Collage.
Was tun mit Woyzeck? Als Georg Büchner 1837 im Züricher Exil mit nur 23 Jahren an Typhus starb, blieb sein letzter Theatertext als Torso zurück. 31 teils nur wenige Sätze kurze Szenen, unnummeriert, ohne Seitenzählung, zudem in vier unterschiedlich weit entwickelten Entwurfsstadien. Eine Materialsammlung kriminalistischer und medizinischer Fallgeschichten, darunter sogar wortwörtlich abgeschriebene Passagen aus einem Gerichtsgutachten. Es gibt keinen abgeschlossenen, fertigen Text und schon gar keine endgültige Fassung.
Was also tun mit Woyzeck? Man könnte nun die Bruchstücke zu einem logisch stringenten Ganzen ordnen, dabei Entscheidungen über „Wichtiges“ und „Unwesentliches“ treffen, „Haupt“- und „Neben“-Figuren“ stärker herauspräparieren und somit Ordnung schaffen, wie das etwa Alban Berg in seiner Opern-Vertonung „Wozzeck“ getan hat.
Oder aber – wie Christiane Pohle bei ihrer Inszenierung am LTT, die letzten Donnerstag Premiere feierte – man zerlegt das Fragment konsequent in seine Einzelteile. Dekonstruktivistisches, postdramatisches Theater, das den Körper mit seiner physischen Präsenz gegen den Text ausspielt.
Zu Beginn gleich programmatisch fast zehn Minuten lang textlose körperliche Aktionen zu Steve Reichs minimalistisch wummernden Marimba-Schlägen. Über den Boden rollen, springen, stürzen, Handstand, sogar auf den Händen laufen. „Echte“ Menschen in ihrer Anstrengung und Erschöpfung statt fiktiver Figuren mit gespielten Emotionen.
Ebenso minimalistisch das Bühnenbild (Bühne und Kostüme: Charlotte Pistorius): eine abweisend karge Zuschauertribüne, grobes Holz und Plastikwelldach, davor lässt sich ein stock- und wasserfleckiger Vorhang zuziehen. Nach hinten offen, kann man an der Bühnenrückwand die Versorgungsrohre und den Feuerlöscher sehen.
Ähnlich nackt und bloß, buchstäblich verwaist steht Büchners Text zwischen den Schauspieler-Körpern auf der Bühne. Sperrig und unhandlich wie auch schon der Darmstädter Zungenschlag in Büchners Text, ein hessisch gefärbter Kunstdialekt.
Am klarsten konturiert sind die zentrierenden Figuren Woyzeck (Justin Hibbeler mit charismatischer Präsenz) und Marie (Julia Staufer, eindrucksvoll ihr stoisch vielsagender und doch undurchdringlicher Gesichtsausdruck), theatrale Fixpunkte in dieser wirbelnden Performance-Revue.
Büchners Doktor-Figur ist hier aufgespalten in Herr und Frau Doktor (Rolf Kindermann und Hannah Jaitner), sich selbst zum Dialog geworden. Büchners Hauptmann wird zu einer Wellness-versnobten Frau Hauptmann (Insa Jebens), die sich von Woyzeck die Beine rasieren lässt.
Am stärksten lösen sich die Konturen einer „klassischen“ Figur bei Davíd Gavíria auf, der in gleitendem Rollenwechsel mal Woyzecks Freund Andres spielt, mal das gemeinsame (?) Kind von Marie und Woyzeck, dann wieder das Märchen der Großmutter erzählt oder mit Pferdemaske über dem Kopf als dressiertes Wundertier vorgeführt wird.
Viele Figuren, die in Büchners Fragment nur punktuell auftauchen, kommen in Pohles Inszenierung zu Wort, ohne dass sie als individuelle Figuren erkennbar wären. Der Theatertext läuft dann gewissermaßen quer durch die insgesamt sieben Schauspielerinnen und Schauspieler hindurch. Das macht Büchners ohnehin schon sehr nihilistisch düsteres Figuren-Panorama noch deutlich anonymer. „Dieweil der Tag lang und die Welt alt is’, können viele Menschen an einem Platz stehen, einer nach dem andern“, sagt Marie einmal. Der Mensch ist ein existentielles Einzelschicksal, aber letztlich austauschbar.
Ihre stärksten Momente hat diese Inszenierung, wo sie zur Körper-Performance wird, wo sie das Objekthafte dieser Welt, auch des menschlichen Körpers buchstäblich zur Schau stellt. Etwa Justin Hibbeler – Woyzeck als medizinisches Versuchskaninchen – im grellen Licht eines Overheadprojektors, auf dessen Glasfläche Frau Doktor in einer Petrischale eklig giftige Substanzen zusammenspritzt, die via Projektion ihre psychedelischen Schlieren über Hibbelers Körper ziehen.
Die Inszenierung selbst ist eine Versuchsanordnung, eine wild entfesselte szenische Fantasie im Theaterlabor. Es geht um Gewalt. Der Mensch als dressierte, zugerichtete, ausgebeutete und geschundene Kreatur. Eine Gewalt, die auch im Umgang mit Büchners Text sichtbar gemacht werden soll.
Die dekonstruktivistische Collage schneidet mitunter auch zwei verschiedene Szenen-Texte parallel. Eine Zerreißprobe an der Grenze zum Auseinanderfallen. Die Performance-Revue mit ihren aneinandergereihten, manchmal fast beliebig wirkenden physischen Aktionen dekonstruiert jeden dramat(urg)-ischen Spannungsbogen, stellt gleichwertig Szene neben Szene, Figur neben Figur.
Mancher Premierenbesucher im LTT-Saal – gemäß der Corona-Verordnung aktuell auf rund 180 Zuschauer begrenzt – mag bisweilen ratlos oder irritiert gewesen sein. Mit falschen Erwartungen käme hier sowohl der Theatergänger, der sich vom Schauspiel einfühlend verkörperte, illusionär „echte“ Figuren wünscht, als auch die Schulklasse auf der Suche nach einer werkgetreuen „Klassiker-Inszenierung“ (zumal ja ohnehin kein verbindlicher „Original“-Text existiert).
Dafür gibt Pohles Inszenierung mancher Begabung Raum, die sonst ungeahnt verborgen schlummert, wenn etwa Dennis Junge als Tambourmajor mit knallblauem Cowboyhut und vorgeschnalltem Glockenspiel den Trauermarsch aus Gustav Mahlers Erster Symphonie anstimmt oder mit Furor das Schlagzeug bearbeitet.
Unterm Strich
Experimentelles Performance-Theater für Experimentierfreudige. Ambitioniert und eigenwillig, mit enormem Schauspieler(-Körper-)Einsatz und musikalischen Überraschungen. Mit der dekonstruktiven Text-Collage kommt am besten klar, wer den Büchner-Text gut kennt und die theatralen Metamorphosen nachvollziehen kann. Oder wer ohne traditionelle Erwartungen kommt, loslassen und sich auf diese postdramatische Theater-Fantasie einlassen kann.
Schwarzwälder Bote, 21. Februar 2022
Äußerlich und innerlich Getriebene
(von Christoph Holbein)
Inszenierung von „Woyzeck“ spielt mit körperlichen Bildern
Er ist Spielball der Menschen um ihn herum, die mächtiger sind als er. Sie, die ihm mit Spott, Verachtung und Gewalt begegnen – Hauptmann, Doktor, Tambourmajor und Marie – richten ihn zugrunde, ihnen ist er ausgeliefert, ihnen kann er sich nicht entziehen: der Soldat Woyzeck. Dieses getrieben Sein, diese Zerrissenheit der Protagonisten übersetzt Regisseurin Christiane Pohle bei ihrer Inszenierung am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) in symbolhafte körperliche Bilder. Dabei nimmt sie das Bruchstückhafte des Dramenfragments „Woyzeck“ von Georg Büchner auf, erhebt es zu ihrem Erzählprinzip und lässt sich dabei auf die Sprache Büchners, auf seinen volksliedhaften Ton ein.
Es sind textfreie Passagen, mit denen Pohle vor allem arbeitet, mit denen sie das Fragmentarische der losen 31 Szenen, die Büchner hinterlassen hat, dokumentiert und die einzelnen Bilder in sich verbindet. Die Protagonisten rollen herein, laufen rund um die Tribüne, die das Zentrum der Bühne bildet, turnen, krabbeln im Vierfüßler-Gang, tanzen und machen Handstand. Dazwischen gibt es Trommelwirbel. Sinnbildlich für das Ausgeliefertsein des Woyzeck offeriert die Regisseurin klare Übersetzungen: Verzweifelt versucht er die ihm zugeworfenen Schuhe aufzusammeln und zu sortieren, doch seine Freundin Marie hüpft dazwischen und zerstört die Ordnung.
Grimassenhaftes Spiel, stereotype, ja fast zwanghafte Handlungen, skurril gezeichnete Figuren, rhythmische Klangtänze, Pferde- und Eselmasken, das Overhead-Lichtspektakel mit dem Tageslichtprojektor, mit Pipette und Petrischale, um die zynischen medizinischen und wissenschaftlichen Experimente an Woyzeck zu pointieren: Regisseurin Christiane Pohle schöpft aus dem Vollen, auch aus dem theaterpädagogischen Fundus. Das ist grotesk. Gefühle sind in Bewegungen übersetzt, das Ausgeliefertsein, die Verzweiflung in mitunter martialische Bilder. Pohle komponiert in ihrer Inszenierung mit ihrer facettenreichen, ideengewaltigen Kreativität stilisierte, symbolhafte Szenen, bestimmt damit den Charakter des Stücks und drückt dem Fragment „Woyzeck“ ihren ganz eigenen, interessanten Stempel auf.
Reutlinger General-Anzeiger, 19. Februar 2022
Wenn das Schlagzeug im Kopf trommelt
(von Kathrin Kipp)
Der Mensch als Jahrmarkt-Kuriosität: Christiane Pohles Inszenierung von Büchners »Woyzeck« am LTT
»Was ist der Mensch? Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?«, fragte sich Büchner. Wie praktisch wäre es, wenn man in den Menschen hineinsehen könnte. Regisseurin Christiane Pohle versucht nun am LTT, wenigstens ein klein wenig in Büchners so rohen wie tiefgründigen »Woyzeck« hineinzublicken.
Ist es die Eifersucht, die Armut, die permanente Demütigung, die Genetik, die Psyche, das System, die Gesellschaft oder die bloße Natur, die uns die Kontrolle verlieren lässt? Nicht nur Woyzeck ist ein ungeschliffener, brüchiger, zerrissener Mensch, auch Büchners Drama wurde bekanntlich nur als verzetteltes Stückwerk in verschiedenen Versionen hinterlassen. Christiane Pohle und Laura Guhl (Dramaturgie) erstellen daraus eine szenische Collage aus menschlichen Bruchstücken, psychotischer Poesie, bedrohlichem Getrommel, zynischen Experimenten, vielsagenden Bildern und sportivem Ausdruckstanz.
Vor allem am Anfang, wenn die Frauen und Männer in ihren unterschiedlichen (Macht-) Verhältnissen hineinkugeln ins soziale Drama. In die Welt fallen, wie man so schön sagt. Wo es kein Richtiges im Falschen gibt. Bühnenbildnerin Charlotte Pistorius stellt dazu ein Theater im Theater auf die Bühne, eine Art Kuriositäten-Jahrmarkt, auf dem die Menschen vorgeführt werden und sich selbst vorführen.
Auf der hölzernen Zuschauertribüne versammeln sich die Figuren und begutachten den »Fall Woyzeck«, an dem sie selbst teilhaben. Der schäbige Theatervorhang ist eine Mischung aus Rohrschach-Test und Turiner Grabtuch, an dem sich die Wissenschaft ja auch schon die Zähne ausgebissen hat.
Und so versuchen sich Medizin, Kunst und Jahrmarkt am kuriosen Faszinosum Mensch. Das Publikum auf der Bühne summt Gustav Mahlers »Bruder Jakob« in Moll, der zum grotesken Trauermarsch anwächst. Woyzeck wird so lange gedemütigt von den Verhältnissen, von Gesellschaft und Wissenschaft, bis er tatsächlich Amok läuft.
Christiane Pohle verteilt Büchners Textfragmente auf sieben Figuren, der Hauptmann ist hier eine zynische Frau Hauptmann (Insa Jebens), die sich vom unterwürfigen Woyzeck die Beine rasieren und Fußnägel schneiden lässt. Und von dem sie so angewidert wie fasziniert ist. Sie führt ihn vor, belehrt ihn in Sachen Moral und hetzt ihn auch noch gegen seine Marie auf, bis er irgendwann seine ganze Wut, Hilflosigkeit und Ohnmacht an einem Wesen rauslässt, das noch tiefer steht als er.
Aber was soll man machen, wenn »einem die Natur kommt«? Sind wir Opfer oder Täter? Sind wir der Natur unterworfen, haben wir einen freien Willen oder sind wir alle nur dumme Esel? Dieses alte Rätsel will auch diese Inszenierung nicht lösen, aber mit all diesen Motiven spielen.
Was allerdings als ziemlich sicher gilt: Wer bettelarm ist, kann sich keine Moral leisten. Auch der Doktor im Stück hält sich nicht lange mit moralischen Fragen auf, sondern stellt mit Versuchsobjekt Woyzeck im Dienst der Wissenschaft kranke Experimente an. Die Figur wird gespalten in eine Frau Doktor (Hannah Jaitner), die Woyzecks Urinproben per Tageslichtprojektor als psychedelische Kunstwerke auf die Projektionsfläche wirft, und einen fiesen Herrn Doktor (Rolf Kindermann), der dem gestressten und mangelernährten Hilfsarbeiter bei jeder Runde ein Bein stellt.
Woyzecks Welt ist eine sehr körperzentrierte. Umso mehr sind die Figuren von den Unsichtbarkeiten genervt: »Man sieht nichts, man müsste es sehen!« Justin Hibbeler sucht als Woyzeck an seiner Marie die optischen Spuren ihrer Sünden. Und hetzt ansonsten – »wie ein offen Rasiermesser durch die Welt, man schneid’ sich an ihm« – von Aushilfsjob zu Aushilfsjob.
Seine psychotischen Zustände suchen ihren Ausdruck in finsteren, blutigen und vielstimmigen Metaphern, während die Regie ihn in Bergen von Kleiderlumpen wühlen lässt. Auch ein sehr düsteres Bild. Dazwischen trommelt sich der ewige Konkurrent Tambourmajor (Dennis Junge) in Woyzecks Kopf. Marie (Julia Staufer) wiederum verzweifelt an Woyzeck sowie an den gesellschaftlichen, religiösen und moralischen Zwängen. Einzig Andres (David Gavíria), weiß Rat: Schnaps trinken gegen das Fieber.