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Schauspiel von Urs Widmer
Reutlinger General-Anzeiger, 21. Juni 2020
(von Martin Bernklau)
Urs Widmer ist seit sechs Jahren tot. Sein Stück »Top Dogs« über entlassene Manager, 1996 entstanden, ist auf ganz groteske Weise aktuell geworden.
(…) Beklemmender Höhepunkt des Fugatos von allen affigen Manager-Marotten und Klischees ist keineswegs bloß der kollektive Zusammenbruch der einzelnen Personen; auch nicht das Bild der Entkleidung von all den Karriereklamotten, den Kostümen und Krawatten. Nein, in einer Art Gutmenschen-Manifest (»So wird, so muss es werden!«) beschwört die Truppe Auftrag und Erbe von Kunst und Kultur, sei es des aufgeklärten Humanismus, sei es linker Gesellschaftskritik – und deklamiert die Parolen immer kleinlauter.
Verlegenes Schweigen am Schluss, zaghafter Beifall, dem sich fast schon das Publikum anschließen will. Aber ein Epilog kommt noch. Dann, in ganz fatalistischem Ton, der Gruß, den sich immer Schauspieler, Motivationstrainer und zuweilen auch mal Wirtschaftskapitäne zuriefen: »Toi, toi, toi!«
Die paar Premieren-Zuschauer klatschen das Quintett fünfmal auf die Bühne zurück.
nachttkritik, 21. Juni 2020
Vor dem Mord bitte Hände waschen
(von Thomas Rothschild)
Top Dogs / Medea – Landestheater Tübingen – Mit Euripides und Urs Widmer vermessen Ragna Guderian und Christoph Roos die Spannweite des Theaters durch zwei vordigitale Jahrtausende
(…) "Top Dogs" ist ein handlungsarmes Stück. Genau genommen ist es eine Folge von Dialogen, die keine spektakuläre Aktion suggerieren. Regisseur Christoph Roos hat sich jedoch einiges einfallen lassen, ohne aufdringlich zu wirken. Peter Scior hat ihm eine weiß ausgekleidete Arena bereit gestellt. Die Schauspieler*innen sitzen auf Gymnastikbällen, die die Bewegung auf der ansonsten leeren Spielfläche erleichtern. "Top Dogs" ist ein Ensemblestück ohne herrausragende Individuen.
Dem entspricht die Inszenierung mit wechselnden Positionierungen im Raum, bei denen der Rest der Darsteller – in Tübingen wurden sie gegenüber Widmers Vorlage von acht Figuren auf fünf reduziert – den Rahmen bilden, wenn Sprecher*innen in den Vordergrund treten. (...)
Alle Schweizer Spuren hat man in Tübingen entfernt. So wurde aus der Swissair die Lufthansa, was dem Text eine ungeplante Aktualität hinzufügt. Die Figuren nähern sich der Karikatur, ohne die Ernsthaftigkeit des Themas zu verraten. Wenn Gilbert Mieroph Susanne Weckerle verkörpert und vice versa, wenn Andreas Guglielmetti und Stephan Weber einander das richtige Gehen beibringen, ist das in einem angenehm klamaukfreien Sinn komisch.
Gegen Ende ziehen die Männer ihre Sakkos und Krawatten aus, und im warmen Licht wird "Die Utopie vom Menschen" verkündet: Es wird, es muss die Zeit kommen, da wir Menschen uns achten und mit Würde begegnen." Pause. Alle verstummen. Doch dann schlägt, ohne Übergang, weil eine Szene gestrichen wurde, im wiederum grellen Licht die ernüchternde Replik ein: Frau Weckerle wird die Runde verlassen. "Sie hat eine Stelle gefunden." Alles wie vorher. Nichts dazugelernt. (...)
Schwäbisches Tagblatt, 21. Juni 2020
Das System frisst seine Nutznießer
(von Peter Ertle)
Urs Widmers Klassiker aus den 90er Jahren über gefeuerte Top-Manager. Eine böse Komödie mit Sehnsuchtszwischentönen. In einer durch Covid 19 schockartig ausgebremsten Wirtschaft samt ausgebremstem Leben erfährt das Virus der Gewinnmaximierung und seine Kollateralschäden erneute Aktualität.
Gemeiner beginnt kein Stück. Ein Chef erklärt die Marktlage, spricht über die Erfordernisse der neuen Zeit. Der Untergebene versteht nicht sofort. Der Chef wird konkreter. Der Untergebene erbleicht. Der Chef lacht. Der Untergebene lacht auch, erleichtert. Der Chef wird wieder ernst, zwischen marktlogischer Kälte, Eroberungsrausch und etwas zwischenmenschlicher Gewundenheit hin und her oszillierend führt er die Notwendigkeit aus. Die Notwenidigkeit zu diesem Schritt. Er müsse ihn entlassen.
Also doch. Aber die Szene ist noch nicht vorbei. Gleich wird der Chef selbst in Panik geraten. Jeden kann es treffen. Ein stetes Mittel dieses Abends, der Rollentausch wird von Autor Urs Widmer später auch in Therapiespielchen mit gefeuerten Managern präsentiert. Indes, die Ambivalenz ist auch ohne Therapie in deren Arbeitswelt verankert: Jeder Chef hat immer noch einen über sich. Es gibt überhaupt nur Chefs in diesem Stück. Und nur Untergebene. Untergebene der Firma beziehungsweise des Wirtschaftssystems in seiner New Economy- Ausprägung, es geht um Verschlankung, neue Märkte, Outplacement. In diesem Klima hat Urs Widmer Anfang, Mitte der neunziger Jahre sein Theaterstück geschrieben, in einer Zeit, in der historisch zum erstenmal auch die Reihen der Winner in größerem Stil ausgelichtet wurden. Das System frisst seine Nutznießer.
„Top Dogs“ wurde damals Stück des Jahres und über die Zeit zum modernen Klassiker, gerne auch für den Schulunterricht herangezogen. In einer durch Covid 19 schockartig ausgebremsten Wirtschaft erfährt das Virus des unnachhaltig und am Gemeinwohl vorbei maximierten Gewinns mit seinen grassierenden Kollateralschäden eine erneute Aktualität. Weniger aufgrund des sozialen Spektrums der Betroffenen – wirklich hart gebeutelt werden ja wie immer die Kleinen. Aber im Schock der zusammenbrechenden Lebensillusion, den Strategien der Verleugnung und den in der Krise aufbrechenden Phantasien und Wünschen gibt es Parallelen.
Peter Sciors Bühnenbild nimmt den Zuschauer mit in eine Kreuzung aus Gummizelle und Patientenzimmer, wo gefeuerte Topmanager unter der Last des Schicksals, aber zumindest bunt besockt schleichen, den Schock der Kündigung auf Gymnastikbällen abfedern und von der New Challenge Company fit gemacht werden sollen für die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Manchmal muss ihnen der Grund ihrer Anwesenheit erst klar gemacht werden, die Negierung der Kündigung – wie bei Frau Weckerle von der Lufthansa – ist symptomatisch.
Ja, es ist die Lufthansa und nicht die Swiss Air, Regisseur Christoph Roos hat den Text an vielen Stellen entsprechend aktualisiert, das muss man bei diesem Stück auch unbedingt. Und ja, Susanne Weckerle spielt Frau Weckerle, Stephan Weber spielt Herrn Weber, Andreas Guglielmetti Herrn Gugliemetti und immer so fort. Namen. Schall und Rauch. Da kann man gleich die eigenen nehmen. Und doch mehr als Schall und Rauch: Könnte ja auch ich sein. Ich, der das spielt. Oder du, der da zuschaut.
Bei aller ernsten Thematik: „Top Dogs“ ist eine Komödie. Die zwischen Idiotie und wirklich Augen öffnender Kraft changierenden Therapiesitzungen lassen ihre verkrampften Patienten den aufrechten, lockeren Gang üben, Ehepaare in vertauschten Rollen über sich herziehen (großartig Gilbert Mieroph und Susanne Weckerle) oder die eigene Entlassung aus Sicht des Chefs nachphantasieren.
Die trockene Komik Stephan Webers und die aufgekratzt jammernde, die Guglielmetti seinem Guglielmetti verleiht, haben die Lacher auf ihrer Seite. Insa Jebens führt souverän durch diesen Parcours (und sitzt auch mal selbst als Betroffene dort), in dem schließlich die anrührendsten und grausamsten Wunschphantasien durchgespielt werden. Von der lustvollen Ermordung des Chefs bis zum zwischenmenschlich, pardon zwischentierlich erfüllenden Manager- Kontrast&Traumberuf des glücklich in Scheiße watenden Tierpflegers – samt Erkenntnis, dass der Gorilla menschlicher ist als der Mensch, zumindest in seiner Ausprägung als Tophund.
Gipfelnd in der ergreifendsten Szene des Abends, der Zukunftsvision einer besseren Welt. Die Schauspieler jetzt um jeweils ein abgeworfenes Kleidungsstück in ihrer Kreismitte wie um ein Feuer, in symbolischer Nacktheit. Als sie wieder aufwachen und gewahr werden, wie groß der Abstand zum soeben Beschworenen ist, überkommt sie Scham, Verlegenheit, Schuld – und jene Vereinzelung, in der sie vor ihrem kollektiven Tagtraum gefangen waren. Langes Schweigen. Ob sie etwas mitnehmen aus ihren Träumen?