Am Tübinger Europaplatz eröffnet das LTT sein musikalisches Sommertheater furios mit „Sex and Drugs and Schlagertraum“
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Eine musikalische Komödie im Epizentrum zwischen ESC und Punkrock von Jörg Wockenfuß und Nicolas Schwarzbürger · 6 +
Deutschlandfunk - Kultur heute, 2. Juli 2025
Sex, Schlager und „Faust“ – Das Sommertheater in Tübingen
(von Christian Gampert)
Hier gelangen Sie zum Radio-Beitrag
cul-tu-re.de, 27. Juni 2025
LTT-Sommertheater – Eine rasante Sause
(von Martin Bernklau)
Am Tübinger Europaplatz eröffnet das LTT sein musikalisches Sommertheater furios mit „Sex and Drugs and Schlagertraum“
Faust goes Song Contest. Die Idee ist ganz einfach – und funktioniert prächtig. Das lang schon musikalisch ambitionierte LTT bringt eine Revue in den Globe-Theaterkubus vor dem Hauptbahnhof, in der ein Iggy-Pop-Mephisto den deutschen ESC-Altmeister „Rolph Kugel“ faustisch durch den Kakao zieht, quer durch die Geschichte von Schlager und Rock bis Punk und Dieter Thomas Kuhn schleift – und für das Versprechen eines weiteren Sieges seine Seele kapert. Am Donnerstagabend war die frenetisch gefeierte Premiere. Ein leicht prolliger, mit übermütiger Spielfreude dargebotener Sommernachtstraum.
Ein grandioser Gilbert Mieroph spielt und singt in dieser herrlichen Parodie diesen lächerlich ambitionierten alten Herrn, der nach „Ein bisschen Frieden“ immer noch auf einen zweiten Sieg und auf Frischfleisch geil ist – im Duell mit einer nicht minder fantastischen Franziska Beyer. Genauso gut, sozusagen als Gretchen in Gestalt von Debby Harry (oder Patty Smith): Robi Tissy Graf. Vielleicht sah sie schwarzledern der Iggy-Pop-Mephista etwas zu ähnlich im Outfit.
Als „JederMensch ist ein Künstler!“-Beuys oder als DTK (der fröhlich im Publikum saß) konnte Jonas Hellenkämper ebenso glänzen wie das Star- und Sternchen-Personal der weiteren Katjas: Insa Jebens, Andreas Guglielmetti und Rosalba Salomon oder auch Katharina Engelmann als „Conchita aus der Asche“ mit dem aktuellen ESC-Siegersong aus Österreich. Köstlich als Tübinger Fensterbank-Glotzerinnen Waldorf und Statler – mit pfupferndem Rock im Blut – Sabine Weithöner und Susanne Weckerle. Sie singen und tanzen alle umwerfend gut.
LTT-Hausmusikus Jörg Wackenfuß (auch Leader der fantastisch vielfältigen und versierten Band) und Nicolas Schwarzbürger haben diesem Ensemble ein Stück zusammengestellt, das nicht nur reihenweise musikalische Highlights, nämlich sage und schreibe 44 gecoverte Hits raushaut, sondern die Story auch mit einem Text voller Anspielungen und funkelnder Pointen vorantreibt.
Thorsten Weckherlin hat das bildstark und einfallsreich inszeniert. Anja Bosch, die Tango-Spezialistin, fügt mit ihrer Choreografie den musikalischen Ambitionen des LTT fast ein weiteres Genre, eine zusätzliche Facette bei, und Kay Antony (Bühne) hat die Show zusammen mit Bernadette Weber (Kostüme) glamourös ausgestattet. Nach der untergehenden Sonne erleuchtete eine tolle Lichtregie die Szene mit lokalem Hintergrund, realiter nicht weit entfernt: das Epple-Haus und sein benachbartes Picasso-Lokal. Dort gegenüber trifft sich auch die Drogenszene.
Reutlinger General-Anzeiger, 27. Juni 2025
Hitzig-entspannter Musik-Battle: Das LTT spielt »Sex and Drugs and Schlagertraum«
(von Christoph B. Ströhle)
Standing Ovations gab's bei der Premiere von »Sex and Drugs and Schlagertraum« auf dem Tübinger Europaplatz. Das LTT lässt in der musikalischen Komödie noch bis zum 27. Juli Schlager und Punk aufeinanderprallen.
»Hossa! Hossa!«? Oder doch eher »Lust For Life«? Auf dem Tübinger Europaplatz prallen musikalische Welten aufeinander, viereinhalb Wochen lang. Das Landestheater Tübingen (LTT) hat dort am Donnerstagabend mit dem diesjährigen Sommertheater Premiere gefeiert. »Sex and Drugs and Schlagertraum« heißt das Stück und ist bei vielfältigen Anspielungen und Anleihen - etwa bei Goethes »Faust« - vor allem eins: ein Battle der Ohrwürmer, die lustvoll und launig auf die Bühne gebracht werden. Dafür sorgt neben einem spielfreudigen LTT-Ensemble die vierköpfige Band aus Jörg Wockenfuß (musikalische Leitung), David Bartelt, Richard Eisenach und Julian Müller.
Wockenfuß hat die »musikalische Komödie im Epizentrum zwischen ESC und Punkrock« zusammen mit Nicolas Schwarzbürger erdacht, LTT-Intendant Thorsten Weckherlin hat sie mit vielen schrillen und wenig leisen Momenten inszeniert und Anja Bosch mit Genres sprengenden Choreografien angereichert.
Zeitreise mit Kinderkarussell
Rolph Kugel, in dem man unschwer Ralph Siegel erkennen kann, hat im Stück als Hitproduzent ausgedient. Dass er mal »Mister Grand Prix« war - vergessen. Er fühlt sich zu Unrecht ignoriert, den Eurovision Song Contest auf einem Irrweg und würde seine Seele für den nächsten großen Hit verkaufen. Er beschwört einen Geist herauf, mit dem er nicht gerechnet hat: Iggy Pop, »Godfather of Punk«, der als Pudel in Mephisto-Manier (und dem Song »I Wanna Be Your Dog«) die Bühne betritt und mit Rolph Kugel einen Pakt schmiedet. Dafür gehen beide auf Zeitreise (mit einem Kinderkarussell als Transportmittel), und der Schlagerkomponist verguckt sich. Nicht in Gretchen, sondern in Debbie Harry von der Band Blondie. Es kommt zu musikalischen Annäherungen, wobei Kugel - Ohrwürmer hin oder her - doch auf einem schlecht gealterten Bild davon beharrt, was einen echten Schlager ausmacht.
Die Faust-Analogie dient als roter Faden, sollte aber nicht überbewertet werden. Da ist auch viel Bühnennebel, um nicht zu sagen: Blendwerk im Spiel. Und jede Menge Satire. Die sich wiederum als treffsicherer erweist als Kugels Ich-schreib-nochmal-den-großen-Hit-Obsession.
Musik der Sex Pistols und von Abba
Die Rahmenhandlung ist vor allem ein Vorwand für wunderbare Begegnungen. Mit der Musik von Patti Smith, AC/DC, den Ramones, Billy Idol, den Sex Pistols oder The Clash. Und mit Klängen, die für den ESC-Hitkosmos stehen wie Abbas »Waterloo«, Ralph Siegels für die Gruppe Wind geschriebenes »Lass die Sonne in dein Herz« oder auch Udo Jürgens' »Merci, Chérie«.
Gilbert Mieroph gibt dem von ihm verkörperten Rolph Kugel eine Mischung aus naiver Ungläubigkeit und permanenter Selbstüberschätzung. Franziska Beyer könnte man sich als Iggy Pop nicht cooler und abgeklärter wünschen. Robi Tissi Graf meidet als Debbie Harry das Sentimentale - und kitzelt mit ihrer Stimme doch Empfindungen wie Wehmut, Romantik und Nostalgie bei den Zuhörerinnen und Zuhörern heraus.
Streitgespräch zwischen Kugel und Beuys
Zu den Begegnungen gehören solche im New Yorker Punk-Club CBGB, im Londoner Roxy, in dem sich die britischen Punk-Bands die Klinke in die Hand gaben, und in der »Mausefalle« in Stuttgarts Tübinger Straße, w
o man die Vitalität der Szene erleben konnte. Zwischen Rolph Kugel und Joseph Beuys (verkörpert von Jonas Hellenkemper, der an anderer Stelle auch hingebungsvoll den Tübinger Schlagerbarden Dieter Thomas Kuhn gibt) entspinnt sich ein Streitgespräch darüber, was den Menschen als Künstler ausmacht. Eine Konfrontation, die Laune macht und sich, bevor sie ins Bierernste abgleitet, in die Posse flüchtet. Beuys' Ausflug ins politische Lied mit »Sonne statt Reagan« - 1982 unterstützte er damit die noch junge Partei Die Grünen und die Friedensbewegung - gehört zu den eher befremdlichen Momenten des Abends.
Insa Jebens, Andreas Guglielmetti und Rosalba Salomon überzeugen wie die übrigen Darstellerinnen und Darsteller mit starken Sangesleistungen. Katharina Engelmann hat als »Conchita aus der Asche« einen überwältigenden Auftritt. Und Sabine Weithöner und Susanne Weckerle haben als (mehr konzeptionell als äußerlich) aus der »Muppet Show« entlehnte Figuren Waldorf und Statler, wie man es Schwäbisch nennen würde, eine Schwertgosch. Aber auch den Rhythmus in den Beinen, wenn es ums Tanzen zur Musik in wechselnden Stilen geht.
Schwäbisches Tagblatt, 27. Juni 2025
Vom Schlagerhimmel in den Punkschuppen
(von Moritz Siebert)
Es ist laut, bunt und eine große Hommage an die Geschichte von Punk und Schlager. Bis Ende Juli zeigt das LTT das Stück „Sex and Drugs and Schlagertraum“ auf dem Tübinger Europaplatz.
Es gibt auch die ruhigen, nachdenklichen Momente. Da sitzt der angegraute Mr. Grand Prix von einst, Rolph Kugel (Gilbert Mieroph), versunken an der Orgel und sucht nach den richtigen Tönen und Worten für den nächsten Hit. „Was er haben will, das kriegt er nicht, und was er kriegen kann, gefällt ihm nicht“, singt die Muse, die keine Muse sein möchte, vom Dach. Die Punkkneipe darunter steht leer, Nebel steigt auf. Der Hit mag einfach nicht kommen. Aber die Reise ist ja noch lange nicht zu Ende.
Der Plot führt durch ein dichtes musikalisches Programm. „Sex and Drugs and Schlagertraum“, das Sommertheaterstück des LTT, das am Donnerstagabend beim ZOB auf dem Europaplatz Premiere hatte, ist Musik-Theater im besten Sinne und eine Hommage an die Punk- und Schlagergeschichte. Auf der Hitliste, die im Programmheft mitgeliefert wird, stehen 45 Songs. Und die werden auch alle performt: live, teils ineinander verschränkt, umgetextet und choreografiert (Anja Bosch). Die Band besteht aus Mastermind Jörg Wockenfuß, David Bartelt, Richard Eisenach und Julian Müller. Und wie wertvoll ein musikalisches Ensemble wie das des LTT ist, zeigt sich wieder deutlich: Alle Darsteller verfügen über sehr gute Singstimmen. Das Stück stammt von Jörg Wockenfuß, der auch die musikalische Leitung hat, und Nicolas Schwarzbürger. Regie führt Thorsten Weckherlin.
Iggy Popp als Mephisto
Die überschaubare Handlung ist an „Faust“ orientiert, mit vielen Anspielungen und Zitaten. „Da steh' ich nun, ich armer Tor – und klinge so trüb wie früher schon.“ Rolph Kugels Mephisto ist Iggy Pop (Franziska Beyer). Der Deal: Ein Hit im Tausch mit der Seele. Keine Frage, Kugel ist dabei. Iggy nimmt ihn mit auf eine Reise an die legendären Orte des Punk. Los geht es im Club CBGBs in New York. Dort trifft er auf sein Gretchen, die wenig Interesse am Schlager hat: Debbie Harry (Robi Tissi Graf), Sängerin der Band Blondie. Aber geht es hier jetzt um Schlager oder Punk?
Beides. Das Stück lässt zwei Kulturen und Welten aufeinanderprallen und Gegensätze ineinander verschmelzen: progressiv und konservativ, subversiv und angepasst, Tempo und Tralala, Pogo und Schunkeln. Aber so wie sich im Punk ja häufig auch ein Stück Bürgerlichkeit versteckt, schlummert im biederen Gartenzaun-Bürger auch immer ein bisschen Rebellion. Begleitet und kommentiert wird die Reise aus unterschiedlichen Richtungen: Katja Ebstein schwirrt in vier Variationen ständig um die Protagonisten: als braver Schlagerfreund (Jonas Hellenkemper) und wilde Schlagerfreundin (Insa Jebens), als Punkoptimist (Andreas Guglielmetti) und Punkpessimistin (Rosalba Salomon). Trocken und manchmal zotig kommentieren Waldorf (Sabine Weithöner) und Statler (Susanne Weckerle) das Geschehen.
Das Stück hat ordentlich Tempo. Die Handlung auszudehnen, bleibt keine Zeit, von New York kommen die Protagonisten auch schnell zur nächsten Station: das Roxy in London. Wir sind nun im Jahr 1977, der Schwerpunkt liegt auf britischem Punk.
Wenn Joseph Beuys auf Lena Meyer-Landrut trifft
„Sex and Drugs and Schlagertraum“ ist bunt und laut und ziemlich große Unterhaltung. Es gibt viele Anspielungen auf den Hype und die Showwelt des ESC und natürlich auf den Spielort. Viel Detailverliebtheit steckt in der Gestaltung der Kostüme mit viel Glitzer und Nieten, Perücken und Schminke (Bernadette Weber). Ebenso die Bühne (Kay Anthony), die Möglichkeit bietet, viele Schauplätze gleichzeitig z
u bespielen: Im Hintergrund stehen zwei Container, in einem spielt die Band. An der Seite, natürlich links, steht ein sehr getreuer Nachbau vom Tübinger Epplehaus, und, rechts, das Gegenstück, das Nachbarhaus mit eintöniger Fassade.
Musikalisch ist das alles sehr gut gemacht. Wockenfuß verschränkt Songs, „Blitzkrieg Bop“ von den Ramones geht nahtlos in „Lass die Sonne in dein Herz“ über. „London Calling“ von The Clash verschmilzt mit „Fiesta Mexicana“. Ein Höhepunkt bei der Versöhnung von Gegensätzlichkeiten dürfte der Moment sein, wenn sich die Songs „Sonne statt Reagan“ und „Satellite“ verquicken, Joseph Beuys und Lena Meyer-Landrut gemeinsam mit Punks und Schlagerfreunden singen und eine Choreo tanzen.
Und wie kommt hier Joseph Beuys (Jonas Hellenkemper) eigentlich ins Spiel? Dritte Station: Die Zeitreisenden landen im Stuttgarter Punkschuppen Mausefalle (Tübinger Straße 17), und, nun ja, weit ist es von dort auch nicht mehr in die Staatsgalerie. Beuys' Auftritt, den ständig (und sehr lustig) Anspielungen auf dessen Performance „ja ja ja nee nee nee“ begleiten, drängt das Stück auch, die Frage nach der Kunst wenigstens mal zu stellen. Beuys' Meinung dazu ist bekannt: Jeder Mensch ist ein Künstler. Rolph Kugel sieht das anders: Nee nee nee, Kunst kommt von Können, Joseph.
Aber ehe alles zu sehr in die Tiefe zu gehen droht, beginnt eine Beuyssche Metamorphose: Hut und Anglerweste weg, Toupet auf und Brusthaar raus. Und schon schweben wir über den Wolken im Schlagerhimmel. Ganz dicht über Tübingen.
Die Seele verkauft, den Hit gewonnen? Und wer überhaupt hat am Ende die Oberhand, der Punk oder der Schlager? Selbstverständlich der Punk! Aber das bewertet am besten jeder für sich selbst. Katharina Engelmann singt als „Conchita aus der Asche“ den Eurovision-Siegersong von 2014. Und das Schlusswort hat Patti Smith mit „People have the Power“ – abgemischt mit „ein bisschen Frieden“. Irgendwie versöhnlich.