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von Heiner Müller · 18+
Theater der Zeit, 3. April 2022
Krankhafte Leidenschaft in der Apokalypse
(von Elisabeth Maier)
Brigitte Maria Mayer inszeniert Heiner Müllers „Quartett“ am Landestheater Tübingen
Das Setting rückt in Zeiten des Kriegs in der Ukraine beklemmend nah. Heiner Müllers Drama „Quartett“ spielt in einem Bunker, nach dem Dritten Weltkrieg. Die Figuren aber begegnen einander in einem Salon in Zeiten des Ancien Regime, lange vor der Französischen Revolution. Im Angesicht der Apokalypse verhandeln die Verführer ihre krankhaften Beziehungsgeflechte. Leidenschaft ist ihre Waffe. Brigitte Maria Mayer, die Ehefrau des 1995 verstorbenen großen Schriftstellers Heiner Müller, wagt mit dem Stück aus dem Jahr 1981 ihr Bühnen-Regiedebüt am Landestheater Tübingen. Dabei hat sie nicht nur die vergiftete Beziehung des Paars im Blick, das der französische Dramatiker Choderlos de Laclos 1782 in seinem Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ verewigt hat.
Mit dem frischen Blick der Fotografin und Filmemacherin liest die 57-jährige Regisseurin Müllers sprachgewaltigen Theatertext, der sich tief in die Psyche der Protagonisten bohrt. Thorsten Weckherlin, Intendant der Landesbühne in der schwäbischen Universitätsstadt, hat Mayers Regiedebüt lange geplant und mit der Berlinerin vorbereitet. Wie in ihrer Film- und Fotokunst, die um Religion, sexuelle Identität und Mythos kreist, macht die Regisseurin auch am Theater den Anker des Glaubens fest.
Im Zentrum der Bühne ihres Bruders Gustav Mayer steht ein riesiger Altar, der in blutrotes Licht getaucht ist. Das wirkt wie eine Schlachtbank. Darüber hängt das hagere Fragment einer Christusfigur, zerbrechlich und totenstarr. „Jesus ist gefrorene Gewalt, um Liebe zu ermöglichen“, kommentiert die Künstlerin die Heiligenfigur. Ihr Zugriff auf den Text ist hoch aktuell. Die zu zaghaft aufgearbeiteten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche schwingen in ihrer Regiepremiere ebenso mit wie sexueller Missbrauch und Mädchenhandel, die Jeffrey Epstein und der britische Prinz Andrew auch in der Gegenwart zu lange ungestraft praktizieren durften.
Diese vergewaltigte Unschuld verkörpern Henriette Weckherlin als Mädchen und Christoph von Reichenbach als Junge. Aus Rache wollen Merteuil und Valmont ihre Körper verschachern, wie das in der damaligen Adelsgesellschaft Usus war. Ihre erschütterten Gesichter sind nur auf Video zu sehen. In ihrem Theater- Debüt geizt die Regisseurin mit filmischen Bildern. Doch umso effektiver arbeitet sie damit. So kommt der Schmerz der Heranwachsenden, denen die Jugend geraubt wird, zum Tragen. Kivik Kuvik hat eine Videobühne in Form eines Triptychons geschaffen. Der sakrale Raum öffnet Horizonte in der tiefenscharfen Inszenierung.
In ihrer Rolle als Marquise von Merteuil verkörpert Susanne Weckerle zwar eine Verführerin, die mit dem eigenen Alter hadert. Zugleich zeigt die Schauspielerin aber die zerbrechlichen Seiten ihrer Figur, die in der Jugend selbst zum Opfer adliger Willkür würde. Das gilt auch für Stephan Weber, der seinen Vicomte de Valmont als brutalen Machtmenschen interpretiert, ihn aber mit feinen Stichen demontiert. In dem verzweifelten Rollenspiel, in das sich die beiden verstricken, sind sie am Ende allein. „Krebs, mein Geliebter“ - in den letzten Worten Merteuils hallt die entsetzliche Einsamkeit in der menschenleeren Welt nach.
„Mir geht es um die Anbindung an den Mythos“, sagt die Regisseurin. Da spricht sie vom intensiven Austausch mit ihrem Mann Heiner Müller, der als politischer Dramatiker in der DDR und später im wiedervereinigten Deutschland die Gegenwart in der Geschichte spiegelte. „Mythos, das ist Gestern, Heute, Morgen.“ Und obwohl Müller sehr viel stärker den gesellschaftlichen Kontext im Blick hatte, gelingt Mayer ein Zugriff, der berührt. Der Beschleunigung der Mediengesellschaft setzt sie ein Theater des Erinnerns entgegen. Werte der Aufklärung haben im 18. Jahrhundert den festen Glauben an Gott zerstört. Heute ist es die digitale Fragmentierung, die Menschen aus Fleisch und Blut zu bloßen Avataren im Spiel der Clicks und Schlagzeilen verkümmern lässt. Brigitte Maria Mayers „Quartett“ bricht solche mediale Verkürzung nicht nur mit stärkerer Text- und Körperarbeit der Schauspielerinnen auf. Aus dem Kunstkörper der Jesusfigur rinnt Blut. So kleidet sie den Schmerz einer zerfallenden Welt in ein großes, sinnliches Endzeitgemälde.
Merkur, 17. März 2022
(von Susanne Greiner)
Beide Schauspieler meistern dieses Wort-Monsterwerk in gestochen scharfer Brillanz
Theaterleiter Florian Werner bezeichnet „Quartett“ als „modernen Klassiker“. Sogar in der Mailänder Scala war es als Oper zu sehen. Entgegen des Titels ist es ein Zweipersonenstück: Müller reduziert Laclos‘ Briefroman auf die Marquise de Merteuil und ihren ehemaligen Geliebten, den Vicomte de Valmont. Beide dekadent arrogant und vom Leben übersättigt – weshalb sie ihr Dasein als Akt der Macht und Gewalt inszenieren müssen. Denn letztendlich haben sie erfahren, dass Liebe und Sexualität nur dazu dienen, Macht auszuüben: In Mayers Inszenierung haben beide Figuren sexuellen Missbrauch erlebt.
Wie im Roman planen Merteuil (Susanne Weckerle) und Valmont (Stefan Weber) die Verführung der jungfräulichen Cécile de Volanges und die der verheirateten Madame de Tourvel (daher das „Quartett“). Doch Müller tauscht die Identitäten: Taucht Merteuil anfangs im weißen Pelzmantel auf, tauscht sie diesen mit Valmonts Mantel – und schlüpft in dessen Rolle, während Valmont zu Madame de Tourvel wird. Die beiden Figuren wechseln, als Theater im Theater, ständig Rolle und Geschlecht. Mayer deutet das lediglich durch minimale Veränderungen in den Kostümen an.
Müller geht es um Geschlechter-Identität, ums ‚Ich‘. ein Thema, das auch Mayer in ihrer fotografischen Arbeit bearbeitet hat. Schwelgen beide Figuren bei ihrem ‚Theaterspiel‘ im überbordenden Schmalz der Dramatik oder der nackten Grausamkeit gegenüber dem zu Verführenden, verfallen sie in ihren eigenen Rollen dem sprachfreudig ausgelebten Zynismus des Überdrusses. Jegliches Gefühl bleibt Spiel, das Leben ist beiden ein nichtiges Übel.
In Müllers Sprache trägt jedes Wort, und jedes Wort trägt Bedeutung. Beide Schauspieler meistern dieses Wort-Monsterwerk in gestochen scharfer Brillanz und überzeugen auch in ihrer zurückgenommenen Mimik. Das Stück strotzt hingegen vor Symbolik: Das Bühnenbild in den Farben der Trikolore hat Mayer entworfen. Musikalisch ist Schuberts „Erlkönig“ zu hören – der begnadete Verführer. Auch die Kostüme (Christopher Paepke) sind Symbol: reines Weiß, das nicht rein bleibt. Religiöse Symbolik steckt im Bühnen-Altar, der zum Opferblock wird: Blut, nicht nur aus der über ihm hängenden Christusfigur, macht ihn zum Opferstein. Wein wird aus Messkelchen getrunken, ein Teller voller Hostien schmettert über den Boden. Und Valmonts ‚Verführung‘ der unschuldigen Nichte Merteuils – auf dem Altar – spiegelt sich in einer priesterlichen Missbrauchsszene im Videohintergrund.
Die Missbrauchsvergangenheit beider Figuren, die deren Verhalten miterklärt, interpretiert Mayer in Zeilen von Müllers Text hinein. Ihre Lesart des Stückes mit dem Schwerpunkt Religion und Machtmissbrauch der Kirche ist eine ganz eigene – die die Fotografin gleich zu Beginn deutlich macht: Während Merteuil wie ein Priester bäuchlings am Boden liegt, ertönt Bachs „Erbarme dich“ aus der „Matthäuspassion“. Dann schlägt sie der Christusfigur am nicht vorhandenen Kreuz mit einem Stock die Beine ab. Soviel zum ‚Erbarmen‘.
Müllers Themen sind lebensumfassend. Mayers Inszenierung geht unter die Haut. Es fordert – und überfordert auch. Sicher wusste nicht jeder, etwas mit dem Stück anzufangen – ganz abgesehen von einem ‚hat mir gefallen‘. Dazu kommt noch Mayers Idee, das 80er-jahre-Stück mittels Machtmissbrauch der Kirche aktuell zu gestalten. Und das wirkt teilweise aufgesetzt, fast zu konkret in Müllers Symbolen. ‚Das also auch noch?‘, fragt man sich. Reichen die Themen Identität, fragwürdige Moral, sprachliche Dekadenz und Macht-Abhängigkeitsdiskussion nicht aus? Dass nicht viele das schwierige Stück sehen wollten, ist momentan sicher nachvollziehbar. Aber auch, dass einige Zuschauer kopfschüttelnd den Saal verließen.
Schwarzwälder Bote, 16. Februar 2022
Wirkgewaltung und nicht selten verstörend
(von Christoph Holbein)
Inszenierung von Heiner Müllers Stück „Quartett“ in Tübingen lotet Grenzen aus
An Heiner Müller und seinen Werken scheiden sich mit Sicherheit die Geister. Sein Œuvre mag nicht jedem gefallen. Was aber Regisseurin Brigitte Maria Mayer an Interpretation und Aussagekraft in ihre Inszenierung des Stücks „Quartett“ legt, ist durchaus einen Theaterbesuch in der Werkstatt des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) wert. Mit wirkgewaltigen und manchmal brutalen Bildern, die immer wieder aufwühlen, verstören und erschrecken, macht sie die Zerstörung und moralische Vernichtung, die Autor Heiner Müller mit seiner bestialischen Rhetorik bis in die Finessen des Satzbaus zelebriert, plakativ deutlich.
Die Regisseurin setzt dabei viele und starke religiöse Zeichen. Im Zentrum der Bühne – auch das Bühnenbild hat Brigitte Maria Mayer kreiert - steht vor Videowänden, die in wechselnden Farben grell erleuchten, ein wuchtiger Altar, darüber hängt eine (über)lebensgroße Jesus-Figur, aus deren Wunde es später blutet. Geistliche Musik erklingt. Die Protagonisten beten das „Vater unser“ und das Glaubensbekenntnis, Kelch, Hostie, Weihwassersprengel bilden Insignien des Spiels. Im Priestergewand treten die sexuelle Vereinnahmung und Gewalt zu Tage.
„Quartett“ ist ein Stück für zwei ambitionierte, ausdrucksstarke und engagierte Schauspieler, die ihre Grenzen auslosten und bereit sind, darüber hinaus zu gehen. Susanne Weckerle als die Marquise von Merteuil und Stephan Weber als Vicomte von Valmont gelingt das kongenial. Ihr Spiel ist stark; sprachlich, körperlich, gestisch und mimisch ausgereift und übersetzt den Zynismus und die Boshaftigkeit in greifbare, treffend gesetzte, manchmal sogar komödiantische Szenen. Zu dieser dichten Atmosphäre tragen auch die Video-Einspielungen bei mit ihrer brachialen Deutlichkeit: Henriette Weckherlin und Christoph von Reichenbach mimen hier als Mädchen und Junge die „Gespiel*innen“ in einer bildgewaltigen Präsenz.
Die Sprache Müllers ist dicht und drastisch – „die Ewigkeit als Dauer-Erektion“ – und Mayer untermalt diese Bestialität mit einem Farbenspiel auf den Videowänden und dem gut erarbeitenden Spiel der Protagonisten, die im Rollentausch auch den Part ihrer Opfer übernehmen und deren Demütigung bis ins letzte Detail auskosten, was bis zur Entblößung und Nacktheit eskaliert. Damit schafft die Regisseurin klare, wahnsinnige Bilder dieser wollüstigen Freude, mit der sexuellen Lust an der Zerstörungskraft eines amoralischen Rationalismus zu experimentieren: Marquis de Sade lässt grüßen.
Stephan Weber sagt zum Schluss in seiner Rolle: „Ich hoffe, dass mein Spiel Sie nicht gelangweilt hat. Das wäre in der Tat unverzeihlich.“ Nein, das hat die Inszenierung in der LTT-Werkstatt ganz gewiss nicht.
SÜDWEST-PRESSE, 14. Februar 2022
(von Wilhelm Triebold)
Merksätze wie geronnener Büchner
Brigitte Maria Mayers Verbindung zu Tübingen besteht schon länger. Hier, im Konkursbuch-Verlag, erschienen die ersten Bildbände der Fotografin und letzten Ehefrau von Heiner Müller. Hier beteiligte sie sich 2019 an einer Kunsthallen-Schau über kunsthistorische Renaissance, Nachstellungen teils musealer Meisterwerke. Und schließlich traf sie dort auch auf einen Intendanten, den sie bat, ihr eine kleine Bühne zu überlassen: Sie möchte „Quartett“ inszenieren, das Kammerspiel ihres 1995 verstorbenen Gatten.
Nun ist das Zweipersonenstück noch kein Museumsexponat, sondern das wohl am häufigsten anzutreffende Überbleibsel der ätzend raunenden Systemkritik, mit der Müller auf der deutsch-deutschen Grenzlinie der 1980er- und 1990er-Jahre balancierte und bilanzierte. Denn inzwischen hat der Zeitgeist nahezu den Rest seines Werks ins Depot verbannt. „Quartett“ hingegen erscheint in seiner ganzen Morbidität frischer und aktueller denn je, wie das späte Regie-Debüt der Müller-Witwe am LTT aufzeigt.
Zur „Zähren“-Arie aus Bachs Matthäuspassion wirft sich Susanne Weckerle in den Staub vor dem Gekreuzigten und einem imposanten Opferaltar, der gleichzeitig als Schlachtbank der Begierden dient. Blut fließt aus der Wunde des Corpus Christi, Videosequenzen unschuldiger Kindergesichter und androgyner Knabenkörper weisen die Richtung: Es geht um Missbrauch, um Verfügbar- und Verführbarkeit samt Machtgefälle.
Heiner Müller transportierte Laclos‘ „Gefährliche-Liebschaften“ aus dem unmoralischen untergehenden Ancien Regime, aus dem „Salon vor der französischen Revolution“, in die mitleidlose Moderne. Mayer sucht nun den weiterführenden Weg in „Bunker nach dem dritten Weltkrieg“ und findet Verderbnis – von der geilen Geistlichkeit bis zur organisierten Pädokriminalität.
Auf dieser Folie verhandelt das Duo Weckerle und Stephan Weber aufopferungsvoll die Geschlechter-Schlacht ohne Krieg zwischen maskenhafter Marquise und koksendem Vicomte. Und zwar als Rollen- und Klamottentauschmanöver. Denn in dieser Besetzung gibt es keine Gefangenen, außer die beiden selbst, die von vornherein unrettbar verloren sind. Es mag in dieser allerersten Theaterinszenierung, die sich Brigitte Maria Mayer zutraut, manches noch nicht stimmig sein an Rhythmus, Tempo, Schauspielerführung. Doch die Richtung stimmt. Müllers ganz und gar nicht musealen Merksätze sind wie geronnener Büchner. Und gehören auf die Bühne. Ohne Furcht.
Die Deutsche Bühne online, 13. Februar 2022
Die Gier und der blutende Erlöser
(von Thomas Morawitzky)
Heiner Müllers dichter, elegant abgründiger Text, der sie in die Spirale der Selbstvernichtung treibt: Die Darsteller brillieren ausdrucksstark, facettenreich in dieser Inszenierung
Mit religiösen Motiven hat Brigitte Maria Mayer sich zuvor schon beschäftigt. Als Fotografin veröffentlichte sie ihren Band »Perfect Sister« 1991 im Tübinger Konkursbuch-Verlag, reiste zur Buchmesse, begegnete dort Heiner Müller, mit dem sie bis zu seinem Tod 1995 eng zusammenarbeitete, den sie 1992 heiratete. Identität und Sexualität sind Motive, die ihre Arbeit als Fotografin bestimmen; 2015 veröffentlichte sie eine zeitgenössische, provokante Filmadaption der Matthäus-Passion.
Nun hat Brigitte Maria Mayer zum ersten Mal ein Stück ihres verstorbenen Mannes auf die Bühne gebracht: »Quartett«, entstanden 1980, feierte am Samstag Premiere in der LTT-Werkstatt. Susanne Weckerle spielt darin die Marquise de Merteuil, Stephan Weber den Vicomte de Valmont, Figuren aus Pierre Choderlos de Laclos’ Briefroman »Gefährliche Liebschaften« von 1782: Einst selbst ein Liebespaar, nun aufs Blut verfeindet, konkurrieren die beiden amoralischen, übersättigten Aristokraten um die Zerstörung der Unschuld, planen die Verführung der jungen Cécile de Volanges und der tugendhaften Madame de Tourvel.
Heiner Müller hat die Szene in einem Salon der französischen Revolution angesiedelt und zugleich in einem Bunker nach dem dritten Weltkrieg. Selten dringen Stimmen, Tumult und Kampflärm ein in den hermetischen Raum. Dort umkreisen sich die sexuellen Raubtiere, tauschen die Rollen, die Geschlechter in Szenen bitterer Komik, verwandeln die Täter sich in ihre Opfer. Begehren scheint in dieser Welt nur noch als Gewalt, als Aggression möglich, die Sprache ist ihr Ausdruck: »Jedes Wort reißt eine Wunde, jedes Lächeln entblößt einen Fangzahn.«
Die Regisseurin selbst hat die Bühne als Altarraum gestaltet. Im Hintergrund ein Triptychon, harte weiße Flächen, manchmal angestrahlt in intensiven Farben, manchmal Projektionsfläche für stumme, stilisierte Szenen in Schwarz-Weiß (Videobühne: Kivik Kuvik). Die jungen Darsteller Henriette Weckherlin und Christoph von Reichenbach verschmelzen in diesen Szenen zum Bild der Geschändeten: Hingestreckt auf den Altar, Valmonts Hand zerreißt den Stoff, das Auge des Opfers öffnet sich, blutige Tränen.
Vor diesen Bildern hängend: Ein gekreuzigter Körper, gesenkter Blick, ganz ausgemergelt, brüchig. Unter ihm der Altar (Bühnenplastik: Gustav Mayer), der zugleich die Tafel ist, auf dem Merteuil und Valmont ihre Cocktailgläser abstellen, auf dem sie Kokain einsaugen vom silbernen Tablett, das zuvor Hostien trug, ehe die Marquise de Merteuil sie auf den Boden schleuderte. Ein schwerer Block, dieser Altar, geteilt von einer Rille, offenkundig dazu bestimmt, Blut aufzunehmen: ein Opferstein. Merteuil ist es, die zuerst auftritt. Sie trägt weißen Pelzmantel (Kostüme: Christopher Paepke). Zur Musik aus Bachs »Matthäuspassion« streckt sie sich mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden aus. Dort liegt ein Stemmeisen bereit; sie nimmt es auf und zerschlägt dem Christus die tönernen Beine. Blut läuft auf den Stein.
Die Marquise träumt mit Worten den noch abwesenden Valmont herbei – »Wenn ich die Augen schließe, sind Sie schön!« – und streckt sich aus auf dem Altar, besudelt ihren weißen Pelz. Später wird Valmont auf den Altar springen, dort umher gehen, die Schöße seines weißen Rockes ebenfalls rot färben.
Brigitte Maria Mayer hat Heiner Müllers »Quartett« aufgeladen mit religiöser Symbolik. In einem Interview mit dem Tübinger Dramaturgen Adrian Herrmann spricht sie auch über Bezüge zum Missbrauchs-Skandal um Jeffrey Epstein.
Den mag man wiedererkennen in der süffisanten Lässigkeit, mit der Stephan Weber als Valmont seine böse Gier überspielt – »Ich, grausam!«, ruft er höhnisch aus, beginnt zu lachen. Susanne Weckerle dagegen gibt der Marquise de Merteuil eine harte, fordernde Leidenschaft, die selbst erlittene Verletzungen ahnen lässt.
Beiden bleibt nur die Leere, die Grausamkeit und Heiner Müllers dichter, elegant abgründiger Text, der sie in die Spirale der Selbstvernichtung treibt: Die Darsteller brillieren ausdrucksstark, facettenreich in dieser Inszenierung.
Nachtkritik, 13. Februar 2022
(von Thomas Rothschild)
Ein großer Wurf für die kleine Spielfläche der Werkstatt im Tübinger Landestheater
Heiner Müllers "Quartett" über zwei miteinander und anderer Leute Verführung spielende Adlige wird oft inszeniert. In Tübingen gibt es nun aber ein besonderes Regiedebüt: Brigitte Maria Mayer, Müllers Witwe und von Haus aus Fotografin und Kamerafrau, inszeniert das Stück voller religiöser Anleihen.
Ein großer Wurf für die kleine Spielfläche der Werkstatt im Tübinger Landestheater: Gustav Mayer hat sich einen (scheinbar) schweren Steinblock vor Lichtwänden mit wechselnden Farben ausgedacht, der an einen in der Mitte gekerbten überdimensionalen Amboss erinnert und mit seiner Symmetrie das Gegenüber und Gegeneinander zweier ebenbürtiger Antagonisten vorwegnimmt. Darüber hängt eine dürre Figur, die aussieht wie der Gekreuzigte ohne Kreuz. Blut fließt aus einer Herzwunde. Aus den Boxen ertönt Johann Sebastian Bachs "Erbarme dich" aus der Matthäuspassion und das Vaterunser. Die Figur lässt den Stein als Altar erscheinen. Eine Frau, eben noch bäuchlings betend, schlägt der Figur mit einem Stock die Beine ab.
Heiner Müller lokalisiert sein "Quartett" von 1980 in einem "Zeitraum: Salon vor der Französischen Revolution / Bunker nach dem dritten Weltkrieg". Er verleiht ihm gerade dadurch eine Zeitlosigkeit und zugleich eine dystopische Düsternis, die der Romanvorlage von Laclos fehlt. Schon die hat es in sich. Von den Weltkriegen freilich, geschweige denn einem dritten, der uns in diesen Tagen gar nicht so undenkbar scheint, weiß sie noch nichts. Dafür zielt sie, anders als Heiner Müllers Transformation, ausdrücklich auf die Aristokratie, die nach dem dritten Weltkrieg wohl eine geringe Rolle spielt.
Zynisch sind die Protagonisten von Choderlos de Laclos' "Les Liaisons dangereuses" (aber nicht der Roman selbst und seine an diesen Protagonisten geübte implizite Kritik) und von dem auf diesem Briefroman beruhenden kurzen Stück.
Heiner Müllers Bearbeitung hat sich einen festen Platz im Repertoire erobert. Mit der Selbstreflexion des Mediums – die Marquise de Merteuil wird, Theater auf dem Theater, zum Vicomte de Valmont, Valmont selbst zur Madame Tourvel – enthält "Quartett" ein grundlegendes Merkmal der Moderne, mit dem Geschlechtertausch befindet es sich, 40 Jahre nach der Uraufführung und 26 Jahre nach dem Tod des Autors, auf der Höhe der Zeit. Verhandelt wird die Kunst der Verführung. Und was wäre Theater anderes, als Kunst und Verführung?
Weiter können Dialoge vom Schlag-auf-Schlag des von vielen bewunderten Netflix-Naturalismus kaum sein als die ellenlangen Wortwechsel Heiner Müllers. Für sie bedarf es einer Sprechtechnik, die im Ausverkauf des Theaters an die Fernsehästhetik und des Redestils an die Kunstlosigkeit auszusterben droht. Was Müller über Elfriede Jelinek gesagt hat, gilt heute mehr denn je auch für ihn selbst: "Was mich interessiert an den Texten von Elfriede Jelinek, ist der Widerstand, den sie leisten gegen das Theater, so wie es ist."
Die Tübinger Akteure – Susanne Weckerle und Stephan Weber – beherrschen die erforderliche Sprechtechnik. Allerdings hält sie die Regie zu einem nahezu unveränderten langsamen Tempo an. Bewegung kommt in der Sprechmelodie nicht auf, trotz einem brenzligen Anklang von Klamauk in den Rollentausch-Szenen. Ob man an eine Litanei denken sollte? Der Gedanke scheint nicht abwegig. Bei Heiner Müller sagt Valmont an einer Stelle: "Lassen Sie mich Ihr Priester sein." Die Regie nimmt die Anregung beim Wort und baut die Szene als sexuellen Missbrauch durch einen Kirchenmann aus, der an Drastik nichts zu wünschen übrig lässt. Der Bezug zur Gegenwart ist offensichtlich.
Renommierte Regisseur*innen von Robert Wilson bis Barbara Frey, vom Filmemacher Michael Haneke und dem dieser Tage verstorbenen Hans Neuenfels bis zum Autor selbst haben sich des "Quartetts" angenommen. Für Brigitte Maria Mayer ist es das Debüt als Theaterregisseurin. Von Haus aus sind Foto und Film ihr Metier. Aber sie hat eine Bindung besonderer Art an das Stück: Sie war Heiner Müllers letzte Ehefrau, und sie hat Müllers Theaterarbeit mit der Kamera begleitet.
Ganz ohne Video geht es auch hier nicht, aber die Projektionen werden sparsam eingesetzt. Sie erfüllen eine assoziative Funktion, drängen sich aber nicht auf. Das gilt auch für die Musik – die Klavierbegleitung zu Schuberts "Erlkönig", einem, wie wir wissen, begnadeten Verführer, und andeutungsweise "Isoldes Liebestod".
Das Publikum war erkennbar angetan von Stück und Aufführung mit einem unerwarteten fragmentarischen Anhang, betitelt "Tod einer Hure". Und was die blasphemischen Schnörkel angeht, die anderswo Ärger bewirken könnten: Tübingen ist schließlich die Stadt von Ernst Bloch, Jürgen Moltmann und Hans Küng. Ein bisschen Aufklärung darf man hier schon voraussetzen.