von Heiner Müller · 18+
Theater der Zeit, 3. April 2022
Krankhafte Leidenschaft in der Apokalypse
(von Elisabeth Maier)
Brigitte Maria Mayer inszeniert Heiner Müllers „Quartett“ am Landestheater Tübingen
Merkur, 17. März 2022
(von Susanne Greiner)
Beide Schauspieler meistern dieses Wort-Monsterwerk in gestochen scharfer Brillanz
Theaterleiter Florian Werner bezeichnet „Quartett“ als „modernen Klassiker“. Sogar in der Mailänder Scala war es als Oper zu sehen. Entgegen des Titels ist es ein Zweipersonenstück: Müller reduziert Laclos‘ Briefroman auf die Marquise de Merteuil und ihren ehemaligen Geliebten, den Vicomte de Valmont. Beide dekadent arrogant und vom Leben übersättigt – weshalb sie ihr Dasein als Akt der Macht und Gewalt inszenieren müssen. Denn letztendlich haben sie erfahren, dass Liebe und Sexualität nur dazu dienen, Macht auszuüben: In Mayers Inszenierung haben beide Figuren sexuellen Missbrauch erlebt.
Wie im Roman planen Merteuil (Susanne Weckerle) und Valmont (Stefan Weber) die Verführung der jungfräulichen Cécile de Volanges und die der verheirateten Madame de Tourvel (daher das „Quartett“). Doch Müller tauscht die Identitäten: Taucht Merteuil anfangs im weißen Pelzmantel auf, tauscht sie diesen mit Valmonts Mantel – und schlüpft in dessen Rolle, während Valmont zu Madame de Tourvel wird. Die beiden Figuren wechseln, als Theater im Theater, ständig Rolle und Geschlecht. Mayer deutet das lediglich durch minimale Veränderungen in den Kostümen an.
Müller geht es um Geschlechter-Identität, ums ‚Ich‘. ein Thema, das auch Mayer in ihrer fotografischen Arbeit bearbeitet hat. Schwelgen beide Figuren bei ihrem ‚Theaterspiel‘ im überbordenden Schmalz der Dramatik oder der nackten Grausamkeit gegenüber dem zu Verführenden, verfallen sie in ihren eigenen Rollen dem sprachfreudig ausgelebten Zynismus des Überdrusses. Jegliches Gefühl bleibt Spiel, das Leben ist beiden ein nichtiges Übel.
In Müllers Sprache trägt jedes Wort, und jedes Wort trägt Bedeutung. Beide Schauspieler meistern dieses Wort-Monsterwerk in gestochen scharfer Brillanz und überzeugen auch in ihrer zurückgenommenen Mimik. Das Stück strotzt hingegen vor Symbolik: Das Bühnenbild in den Farben der Trikolore hat Mayer entworfen. Musikalisch ist Schuberts „Erlkönig“ zu hören – der begnadete Verführer. Auch die Kostüme (Christopher Paepke) sind Symbol: reines Weiß, das nicht rein bleibt. Religiöse Symbolik steckt im Bühnen-Altar, der zum Opferblock wird: Blut, nicht nur aus der über ihm hängenden Christusfigur, macht ihn zum Opferstein. Wein wird aus Messkelchen getrunken, ein Teller voller Hostien schmettert über den Boden. Und Valmonts ‚Verführung‘ der unschuldigen Nichte Merteuils – auf dem Altar – spiegelt sich in einer priesterlichen Missbrauchsszene im Videohintergrund.
Die Missbrauchsvergangenheit beider Figuren, die deren Verhalten miterklärt, interpretiert Mayer in Zeilen von Müllers Text hinein. Ihre Lesart des Stückes mit dem Schwerpunkt Religion und Machtmissbrauch der Kirche ist eine ganz eigene – die die Fotografin gleich zu Beginn deutlich macht: Während Merteuil wie ein Priester bäuchlings am Boden liegt, ertönt Bachs „Erbarme dich“ aus der „Matthäuspassion“. Dann schlägt sie der Christusfigur am nicht vorhandenen Kreuz mit einem Stock die Beine ab. Soviel zum ‚Erbarmen‘.
Müllers Themen sind lebensumfassend. Mayers Inszenierung geht unter die Haut. Es fordert – und überfordert auch. Sicher wusste nicht jeder, etwas mit dem Stück anzufangen – ganz abgesehen von einem ‚hat mir gefallen‘. Dazu kommt noch Mayers Idee, das 80er-jahre-Stück mittels Machtmissbrauch der Kirche aktuell zu gestalten. Und das wirkt teilweise aufgesetzt, fast zu konkret in Müllers Symbolen. ‚Das also auch noch?‘, fragt man sich. Reichen die Themen Identität, fragwürdige Moral, sprachliche Dekadenz und Macht-Abhängigkeitsdiskussion nicht aus? Dass nicht viele das schwierige Stück sehen wollten, ist momentan sicher nachvollziehbar. Aber auch, dass einige Zuschauer kopfschüttelnd den Saal verließen.
Schwarzwälder Bote, 16. Februar 2022
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