Justin Hibbeler, Andreas Guglielmetti, Franziska Beyer, Insa Jebens, Lucas Riedle · Foto: Martin Sigmund
Justin Hibbeler, Lucas Riedle · Foto: Martin Sigmund
Justin Hibbeler, Franziska Beyer, Insa Jebens, Lucas Riedle · Foto: Martin Sigmund
Lucas Riedle, Franziska Beyer, Justin Hibbeler · Foto: Martin Sigmund
Andreas Guglielmetti, Justin Hibbeler · Foto: Martin Sigmund
Andreas Guglielmetti, Insa Jebens, Lucas Riedle · Foto: Martin Sigmund

Orlando

Nach dem Roman von Virginia Woolf · In einer Fassung von Annette Müller


Schwäbisches Tagblatt, 4. Oktober 2022

Stillgestellte Emotionen, magisch abstrakt beleuchtet

(von Peter Ertle)

"ein sehr formalisiertes, ironisches [...] Traumspielmärchen aus einem Spielzeugzimmer, en miniature"

Aus Prosa Theaterstoff zu machen ist heute normal. Nimmt man sich dabei vor, möglichst nur Originaltext zu übernehmen, bedeutet das, dass das Ensemble in Szene setzt, was die Erzählerstimme sagt, allenfalls kommt es zu ein paar aus indirekter Rede in direkte Rollenprosa transformierte Passagen. Gewöhnliches Theater ist das nicht. Aber die Kunst liebt ja das Außergewöhnliche, und aus jeder formalen Besonderheit lässt sich ein spezieller künstlerischer Reiz gewinnen.

Das zu den Voraussetzungen des Stücks Orlando in der Inszenierung Annette Müllers am LTT. Der künstlerische Reiz springt allerdings lange Zeit nicht so aufs Publikum über. Denn dieses muss sich auch noch an eine Ästhetik aus spezieller Langsamkeit, Reduktion und Formalismus gewöhnen. Immer, wenn sich Orlando verliebt, zittern ihm die Knie: Schön. Liebesszenen sehen stets so aus: Gemeinsames Dreirundenwälzen auf dem Boden, als wären’s zwei zusammengebundene Puppen, leblos. Warum die Figuren, wenn sie stehen, wie leicht bewegte Kegel kreisen müssen, warum jemand wie ein Pferdchen auf die Bühne hopsen muss, oder mal ansatzweise Balletttaugliches eingestreut wird? Schwer zu sagen. Man sieht ungefähr, wo es hinwill, es wird aber keine rechte Sprache draus. Apropos: Sprachlich hörte man am LTT selten so viele Ministolperer, kleine Textunsicherheiten, wie Haarrisse ziehen sie sich durch die Aufführung.

Aber unter den Kostümen (Bühne und Kostüme: Oliver Kostecka) gibt es Eindrucksvolles, zum Beispiel das Reifrockuntergestell für den zur Frau gewandelten Orlando. Und es gibt den Text Virginia Woolfs mit seiner eleganten Ironie, dem einen oder anderen Witz, den die Inszenierung auch bespielt. Und ein kurzes Lächeln huscht übers Gesicht der Zuschauer.

Davon abgesehen ist hier alles museal stillgestellt, als wäre es nur die Erinnerung an ehemals starke Emotionen – auch eine Strategie, das Leben zu bändigen – vorgetragen von einer cool distanzierten „Biographin“. Und genau so ist es ja wohl auch. Insofern könnte man sagen: Trefflich! Und, ja, mit der Zeit stimmt man sich ein auf diesen Ton, hört den wechselnden Erzählern dieses stillen Märchens zu, kann Justin Hibbelers Orlando und Insa Jebens’ Orlanda manches abgewinnen, sieht Franziska Beyer und Neuzugang Lucas Riedle in anmutig-kecken Liebhaberrollen einer russischen Prinzessin oder einer rumänischen Herzogin, begleitet Orlando nach Istanbul, bestaunt den riesigen Bouffanten von Andreas Guglielmettis Queen Elizabeth. Und wenn im großen Frostwinter tote Vögel vom Himmel fallen, zaubern sie diese Stimmung auch auf die Bühne, nicht zuletzt aufgrund der famosen Lichtstimmung. Dieses von Leuchtkanten umrandete Quadrat auf dem Boden, die Spielfläche an der Decke gekontert, jede Szene in einer anderen Lichtfarbe: Konkrete Kunst. Sorgt im Verbund mit der superleisen, suggestiven Musik (Malik Diao) für meditative, melancholische Grundstimmung. Sie ist das eigentliche Ereignis dieser Inszenierung. Und dann gibt’s doch noch ein Hallowach-Moment am Schluss, weil die Woolfsche Analyse der Welt der 20er Jahre so sehr unserer heutigen Welt 100 Jahre später gleicht. Auch weil ihre Beschreibung von Mensch und Welt den Charakter eines Glaubensartikels bekommt, dem unbedingt zuzustimmen ist (obwohl er in der Pauschalität auch wieder banal klingt): Wir sind, ein jeder ist: Vieles. Und was Leben, was Liebe, was Wahrheit ist: Wir wissen es nicht.

Gewiss: Ihr Orlando war ein weiterer Versuch, Antworten auf solche Fragen zu finden, diesmal, indem sie ihr eigenes und das Leben ihrer Freundin spielerisch verfremdete, 20 Lebensjahre in eine 300-Jahre-Reise verpackte. Am LTT wurde sie in knapp zwei Stunden magisch abstrakt beleuchtet, ein sehr formalisiertes, ironisches, irgendwie schläfriges Traumspielmärchen aus einem Spielzeugzimmer, en miniature, das Erzählte unter einem Wattebausch aus Sanftmut und Ironie leicht narkotisiert, den Akzent auf die Verwandlung Orlandos vom Mann zur Frau setzend, überhaupt auf die Vielfalt und Unbestimmtheit der Geschlechter, und drumherum die verschieden tickenden, darauf unterschiedlich reagierenden Zeitalter.

Könnte es sein, dass es doch mehr Prosastoff ist als Theater? „Jetzt interessiert mich aber doch mal das Buch“, hört man beim Verlassen der LTT-Werkstatt. Na, dann hat es sich ja irgendwie gelohnt.

 

Unterm Strich

Sehr formalisiert (dafür aber wieder nicht streng genug), mit Theater eine Erzählung illustrierend, ironisch-museal, manche Eigenheit des gleichnamigen Romans für die Bühne umsetzend. Die Ästhetik wirkt aber nicht stimmig genug, das Stück zu wenig belebt.


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Reutlinger General-Anzeiger, 4. Oktober 2022

Vier Jahrhunderte im Spiegel einer Seele

(von Thomas Morawitzky)

"kleinste Gesten werden zu großen Ereignissen"

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