Lucas Riedle · Foto: Tobias Metz
Sabine Weithöner, Jennifer Kornprobst, Andreas Guglielmetti · Foto: Tobias Metz
Jennifer Kornprobst, Sabine Weithöner, Julia Staufer, Andreas Guglielmetti · Foto: Tobias Metz
Sabine Weithöner, Lucas Riedle, Andreas Guglielmetti · Foto: Tobias Metz
Jennifer Kornprobst, Lucas Riedle · Foto: Tobias Metz
Sabine Weithöner, Lucas Riedle, Andreas Guglielmetti · Foto: Tobias Metz
Julia Staufer, Lucas Riedle · Foto: Tobias Metz
Julia Staufer, Lucas Riedle, Andreas Guglielmetti, Jennifer Kornprobst · Foto: Tobias Metz

Orest

Schauspiel von John von Düffel · Nach Sophokles, Euripides und Aischylos · Interlinear-Übersetzung von Gregor Schreiner


Schwäbisches Tagblatt, 2. Mai 2023

Der Fluch geht weiter

(von Peter Ertle)

John von Düffels „Orest“ in einer kompakten, stringenten Inszenierung am LTT.

Der Mensch ist dem Menschen – ein Wolf? Hier: Ja, gleich zu Anfang: Wolfsgeheul.

Dann rast Orest um die Säule in der Bühnenmitte wie in jenem Pferderennen, bei dem es ihn angeblich aus der Kurve trug und zerschmetterte, was der heimkehrende, als Bote verkleidete Orest seiner Mutter Klytaimnestra auftischen wird, um ihre vermutete Erleichterung als weiteres Beweismittel für ihre moralische Verkommenheit zu haben. Der Tod im Pferderennen – eine Lüge also, aber eine gute Metapher für ein anderes Rasen und Umkommen, jenes nämlich der Rache, die Orest umtreibt, samt dem darauf folgenden Rasen der Schuldgefühle, nachdem er seine Eltern tötet.

„Wer Schlechtes tut, dem geht es schlecht“, wird Menelaos später lakonisch kommentieren. Ganz am Schluss des Stücks wird dieser Satz noch einmal auftauchen, in diesem Menetekel aus Sätzen, die ein anderes Ende hätten bringen können, wären sie nur befolgt worden. Aber hier, in John von Düffels sich auf drei antike Dramen berufendem Stück, gibt es, anders als bei Euripides oder Ayschylos, weder ein Gericht der Götter noch einen Polis-Beschluss, der weiter blickt und verzeiht. Hier gibt es nur Hass auf Hass, stets trifft die schlimmste, düsterste Variante ein. Eine beliebte Dramaturgie, von Heiner Müller bis Games of Thrones. Die Untröstlichkeit hat einen Vorteil: Sie kann nicht mehr enttäuscht werden. In diesem Fall mag sie als kathartisches Negativ noch zu einem Positiv-Appell an die Zuschauer taugen.

Der Autor hat die verfluchte Familie fokussiert, Regisseur Dominik Günther beziehungsweise die seine Inszenierungen immer ausstattende Sandra Fox setzt sie in ein Stallgitter, Knast, Sparringsbezirk, ein Nest mit böser Brut auf einen Turm oder einer griechischen Stele. Klytaimnestra (Sabine Weithöner) und Aigistos (Andreas Guglielmetti), die übermächtigen Eltern als säulenheilige Geier, zwischen den Nesthäkchen Elektra (Jennifer Kornprobst) und Chrysotemis (Julia Staufer) wird schnell klar, wer die Stärkere ist, die Radikalere: Elektra. Orest, der Bruder (Lucas Riedle), ist viel anfechtbarer. Unter falscher Identität – hier tut’s ein vorgehaltenes Pappgesicht – spricht er mit Muttern und kommt emotional sofort ins Schlingern, als die überraschend bekundet, sie habe ihren Sohn zwar ob seiner Rachepläne, von denen auch sie erfuhr, gefürchtet, doch immer vermisst, geliebt.

Die Ursache für den Hass ihrer Kinder auf sie und ihren neuen Mann stellt Klytaimnestra ganz anders dar, als die Kinder es sehen: Befreiung von einem Unmenschen sei der Mord an ihrem Ex Agamemnon gewesen, der habe schließlich die erste Tochter Iphigenie de,n Göttern sprich der Karriere geopfert. Sabine Weithöner spricht’s, als Mutter alles überstrahlend, von ihr geht tatsächlich ein Bann aus, und genau jene Ambivalenz aus Zwielichtigkeit und Vertrauen, Härte und Weichheit, die dieser Figur zuträglich ist – und auch der Wahrheit der Story: Denn inwieweit Klytaimnestra authentisch ist oder sich herausredet beziehungsweise ihre Version eben längst verinnerlicht hat – dieser nicht mehr vollständig zu entwirrende Perspektivismus liegt nicht nur im Nebel der Mythologie, er ist auch sehr realistisch, sobald man in Familiensituationen (oder Weltsituationen) schaut.

Was die Akteure im und um den Turm herum fabrizieren, ist dabei so sprechend wie ansprechend. Ob ein halb am Gitter hängendes Pas de deux zwischen Elektra und Orest, später die in Sack und Asche gehende Gewissensqual des Bruders, oder jenes mit dem Kopf durch die Wand beziehungsweise übers Gitter Wollen Elektras, die vor lauter Wut die Tür nicht sieht – ein treffliches Bild ihrer Persönlichkeit.

Und sehr körperlich alles, ein Pendant zum antik-schriftsprachig gehaltenen Text. Alles andere als ein Konversationsstück. Dafür sorgt auch die selten, dann aber wuchtig eingesetzte Musik, zum ersten Mal als musikalische Amphetaminrausch-Afterworkparty nach dem Mord, rockig im wild flackernden Discolicht, Feuerwerk im sonst graumetallischen (Mono-) Ton.

Farbe kommt auch rein, als Menelaos (Andreas Guglielmetti) und sein schönes Web Helena (Sabine Weithöner) samt ebenso schillernder Tochter Hermione (Julia Staufer) als Luxus-jetsettende Malle-Urlauber die Bühne betreten und man sich fragt, wieso die ins Stück mitreingenommen wurden, käme das Treiben doch auch ohne sie aus.

Doch dann kommt einem diese Familie doch bekannt vor: Ist das nicht unsere mit allerlei Verbrechen unsichtbar versippschaftete Wohlstandswelt, unsere Entfernung, unsere Gelassenheit, was tatsächlich ein Ausweg wäre, für alle, die es sich leisten können. Doch in diesem gnadenlosen Stück, man ahnt es, schützt auch kein Tourismus als Zweitrolle, werden auch diese hereinschneienden Besucher gemetzelt. Von Orest, dessen erschrockene Augen, dessen immerwährender Kampf zwischen Besinnung und hingerissener Tat ein so bleibendes Moment dieser Inszenierung sind wie Elektras RAF-taugliche Entschlossenheit und Kälte – während sie ihrem Bruder gegenüber ein großes Herz hat, ach, auch sie: eine Liebende!

Gern würde man ihnen über den Kopf streichen und sagen: „Lasst! Lasst! Alles wird gut.“ Doch der Wind, der von Zorn und Hass ausgeht, ist stärker. Wird also weiterblasen. So einfach sind die weisen, gut gemeinten, am Ende des Stücks nochmal umhergeisternden Ratschläge halt nicht zu befolgen, im Konfliktfall, wenn man sich ungerecht behandelt, gedemütigt, verletzt fühlt. Und so siegt hier nicht die Vernunft, sondern der Fluch, das in eine Zeitlupentrance gegossene Weiterrrasen und Toben der Vergeltung. Wahrscheinlich, bis ihm irgendwann die Kraft ausgeht. Ist das jetzt auch – ein Zeitkommentar?

 

Unterm Strich

Auf dieser Familie lastet ein Fluch, und in John von Düffels auf der Mythologie und der Bearbeitung griechischer Dramatiker beruhenden Fassung ist auch kein Ende abzusehen, da weder Götter noch Vernunft ein entscheidendes Gewicht mehr darstellen. Eine sehr dichte, körperliche, so klare wie dunkle Inszenierung mit starken Bildern.


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