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Eine szenische Lesung von Andreas Guglielmetti
Schwäbisches Tagblatt, 19. April 2021
Led Zeppelin sprengten das Diner
(von Dorothee Hermann)
In einem vergnüglichen Solo-Stück erkundet der LTT-Schauspieler Andreas Guglielmetti die Welt seiner Eltern mit Fotos, Objekten und Musik.
Es klingt nach der bodenständigen, schweizerischen Variante des amerikanischen Traums: Statt vom Tellerwäscher zum Millionär brachte es der Vater des Schauspielers Andreas Guglielmetti vom Maschinenschlosser zum Fabrikanten. Die Mutter hatte sich die eigene Ausbildung zum „Postfräulein“ noch erkämpfen müssen. Der Sohn hat die Zeit des Lockdowns dazu genutzt, sich mit dem eigenen Hintergrund auseinanderzusetzen. Auf der Bühne ist er nicht nur Erzähler, sondern auch eine Art Zeremonienmeister der Familiengeschichte im dunklen Dreiteiler mit Anzug und Weste zum silbrigen Haar. Nur das Oberhemd mit Krawatte hat er doch lieber gegen ein schwarzes T-Shirt eingetauscht.
Auf der kahlen, schwarzen Werkstattbühne des Landestheaters sahen die etwa 25 Besucherinnen und Besucher zunächst nur zwei kleine schwarze Tische. An den einen setzte sich Guglielmetti. Am zweiten managte Sarah Larisch die Technik, die einen Livestream herstellte oder auch nur simulierte.
Geräte zur industriellen Teigwarenherstellung und später Strickmaschinen brachten Guglielmetti senior, seinerseits Sohn eines Schuhmachers aus dem Tessin, den wirtschaftlichen Aufstieg, Aufenthalte in Ägypten, Portugal und Brasilien inklusive. Wenige Fotos oder Postkartenansichten genügten dem Schauspieler, um das alles sehr lebendig zu machen. Er verwendete auch nur einzelne, ausgewählte Requisiten: eine altmodische Pendeluhr, eine Miniaturausgabe der Nofretete-Büste oder ein kleines Plüschtier, von Guglielmetti als „Äffchen“ bezeichnet, obwohl es doch wie ein Bärchen aussah.
Nebenbei schimmerte durch, was in der Schweiz anders war als in der Bundesrepublik der 1930er bis 1970er Jahre. Allein was in der Sprache diesseits und jenseits des Bodensees mitschwingt oder eben nicht, erläuterte der Schauspieler unter anderem anhand des Namens Huber auf Schweizerdeutsch. Mit dem Kampf um die Rote Fabrik in Zürich als alternatives Kulturzentrum Anfang der 1980er Jahre deutete sich ein Perspektivwechsel an von der Welt der Eltern auf die, die nach ihnen kommen.
Man kann sich das Stück immer wieder anschauen: Denn Guglielmetti erinnert sich an viel mehr, als er bei einer einzigen Aufführung erzählen könnte. Manchmal bricht er genau dann ab, wenn es richtig spannend wird. Beispielsweise kam „Onkel Willy“, der Bruder der Mutter, auf der Familienübersicht als „Arzt und Frauenheld“ beschrieben, bei der Premiere noch gar nicht vor.
Das Leben der Eltern war ziemlich normiert: Ein paar Langhaarige im Speisesaal des Luxushotels „Beau Rivage“ in Interlaken sind so laut, dass sie das Galadiner der beiden Fabrikantenpaare stören, die ihrerseits schon recht leger dasitzen. Waren es tatsächlich Led Zeppelin, die dort ihr Album „Physical Graffiti“ feierten?
So soll es Leadsänger Robert Plant der Mutter des Schauspielers erläutert haben, die seit einem Haushaltsjahr in England in ihrer Jugend fließend Englisch sprach. Kann das stimmen, oder hat Guglielmetti das und manches andere nur gut erfunden? Am Ende schien er mit dem dunklen Bühnenhintergrund zu verschmelzen, als würde er nun selbst zum unscharfen Erinnerungsbild.
Zuvor empfahl der Schauspieler den Zuschauern noch, wieder mehr selbst zu erleben, statt Informationen nur aus Suchmaschinen zu beziehen. Denn das scheinbar allseits verfügbare Wissen hat für ihn ein gewaltiges Manko: „Keiner weiß etwas, weil er es erlebt hat.“ Das dürfte vor allem in der Generation seiner Eltern noch ganz anders gewesen sein.
Unterm Strich
Wie sehr es sich lohnt, einfach etwas anderes auszuprobieren, wenn Theaterspielen als Ensemble nicht möglich ist, zeigt dieser so kurzweilige wie nachdenkliche Solo-Abend des LTT-Schauspielers Andreas Guglielmetti. Ihm gelingt ein kleines Wunder: 75 bereichernde Minuten, ohne ein einziges Mal an Corona zu denken. Man geht wie getröstet aus dem Theater.
Reutlinger General-Anzeiger, 16. April 2021
(von Christoph B. Ströhle)
»Ein überragender Abend!«
Ensemblemitglied Andreas Guglielmetti erinnert am LTT mit einem eigenen Text an »Meine Eltern«
Man konnte ihn am LTT zuletzt unter anderem in »Der gute Mensch von Sezuan«, »Top Dogs«, »Faust« oder »Warten auf Godot« sehen. Jetzt hat Andreas Guglielmetti, seit 2014 Ensemblemitglied am Tübinger Theater, einen sehr persönlichen Text vorgelegt, den er in einer szenischen Lesung auf die LTT-Werkstattbühne bringt. »Meine Eltern«, das zeigte die Premiere am Mittwochabend, ist eine Zeitreise in die Schweiz der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Es geht tatsächlich um Guglielmettis Eltern. Und um die Subjektivität des Erinnerns.
Denn neben Andreas Guglielmetti sitzt als Assistentin Sarah Larisch, die immer wieder vermeintliche Facebook-Kommentare und Besserwissereien angeblicher Zuschauer aus dem Netz vorträgt. Als Experiment nimmt der Vortragende das anfangs interessiert bis skeptisch hin. In der Rolle des Sohnes, der nicht einfach so zu googlende Reminiszenzen zusammenträgt, reagiert er dann aber doch zunehmend genervt. »Überschreiten die rührenden Schilderungen des elterlichen Alltags, die in den 1950er-, 60er- und 70er-Jahren spielen, den Raum der Wahrheit?«, ist dazu im Programmheft zu lesen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer, so heißt es, seien eingeladen, dies mit dem Künstler »kreativ zu überprüfen, indem sie nach Belieben glauben oder zweifeln und eben wissen, dass er kein Lügner ist«.
Dass er aus der Erinnerung heraus eine Szene aus einem Sissi-Film falsch wiedergibt, markiert für die Zuhörer klar erkennbar die Kluft zwischen Fakt und im Gedächtnis haften gebliebener Kindheitswahrnehmung. Ein Faktencheck – auch hier leistet die Facebook-Gemeinde ganze Arbeit – mag auf die richtige Fährte führen, bereichert aber nicht das wie in einer Schneekugel aufbewahrte Substrat aus der Kindheit.
Es sind tolle Anekdoten, die der 1966 in Urnäsch im Kanton Appenzell Innerrhoden geborene Schauspieler vorträgt. Erinnerungen an die Großmutter, die dem jungen Andreas Guglielmetti ein wenig unheimlich war, weil sie freitags immer Blut- und Leberwurst aß. An die Mutter, die als Postfräulein Genfer Diplomaten aufscheuchte, weil sie eine Brieftaube verwechselte und so einem in Europa wenig bekannten Jazzmusiker, der beim Festival in Montreux erwartet wurde, einen Empfang wie für einen Staatsgast bescherte. An den Vater, den »sanften Haudegen«, der in Portugal aus nichtigem Anlass in eine handfeste Auseinandersetzung mit einem Araber geriet.
Ein arabisches Schimpfwort, das der Vater als weit gereister Mechaniker kannte und bei dem Zweikampf ausstieß, muss bei seinem Widersacher auf so viel Anerkennung gestoßen sein, dass sie nicht nur rasch ihren Zwist beendeten, sondern über Jahre hinweg gute Freude wurden.
Die Mutter war es, die mit ihren Englischkenntnissen Mitte der 70er-Jahre in einem Nobelrestaurant vier im Raum etwas zu lautstark Feiernde zur Ordnung rief. Der Manager hatte ihnen ihr Verhalten durchgehen lassen. Wie sich herausstellte, waren es Mitglieder der britischen Rockband Led Zeppelin, die Party machten. Sie hatten gerade Songs für ihr Album »Physical Graffiti« eingespielt. Die Mutter und die Musiker kamen länger ins Gespräch. Ein Foto entstand. Das, so berichtet Guglielmetti und verweist auf das Corpus Delicti, schaffte es am Ende, klein zwar, aber immerhin, auf die Rückseite des Plattencovers.
Den Abend über stellt Guglielmetti immer wieder Erinnerungsstücke auf den Boden. Sarah Larisch streut Musik vom Kassettenspieler ein. Die berührendsten Momente aber schafft der Vortragende mit seiner Stimme und seinen Texten. Wenn er auf Schweizerdeutsch ein sehnsuchtsvoll stilles Weihnachtslied singt, er das Taschentuch seines Vaters beschreibt oder die Art, wie dieser ihn, als er ihm bei der Arbeit zur Hand ging, mit »Sohn« ansprach. Ein überragender Abend!