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Schauspiel von Yael Ronen
Reutlinger Nachrichten, 17. Januar 2020
(von Kathrin Kipp)
»eine lustig böse Karikatur, die vom LTT an schwäbische Verhältnisse angepasst, von Regisseur Christoph Roos schön feingetunt inszeniert und einem grandiosen Ensemble geschliffen gespielt wird.«
„Lost and Found“: Das ist eine kurzweilige Culture-Clash Komödie und Sitcom ohne Möbel, darüber, wie man es selbst als aufgeklärter Hipster schaffen kann, auf keinen Fall gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen. Der Flüchtling im Stück hat einfach „das falsche Timing“. Und so führt uns das Stück unseren tiefsitzenden Egosimus und Rassimus vor, auch wenn wir uns noch so perfekt als soziale und fortschrittliche Wesen tarnen.
Die österreichisch-israelische Autorin Yael Ronen entwickelt ihre Stücke immer gemeinsam mit ihren Schauspielern und aus deren persönlichen Geschichten heraus und nimmt so globale Entwicklungen in den subjektiven Fokus. In „Lost and Found“ kommt thematisch einiges zusammen. Und so entsteht aus dem Aufeinanderprallen von Themen, Typen, schön garstigen Dialogen und grotesken Situationen eine lustig böse Karikatur, die vom LTT an schwäbische Verhältnisse angepasst, von Regisseur Christoph Roos schön feingetunt inszeniert und einem grandiosen Ensemble geschliffen gespielt wird. Alles findet im leeren Haus des Vaters statt, dem Katrin Busching löchrige, kalte und metallische Wände verpasst hat, auf denen so etwas wie familiäre Vulkanausbrüche angedeutet sind. Tochter Maryam (Lisan Lantin) ist Life-Style-Video-Bloggerin. Gerade hat sie ihren Eisprung, weshalb sie mit ihrem schwulen Freund Schnute (Nicolai Gonther) schnell ihr zweites Kind produzieren muss, mit Sperma-Spritze und Yoga-Übungen. Dumm nur, dass gerade auch noch ihr (atheistischer) Vater gestorben ist . Ein Onkel aus London bietet an, die Bestattungssause zu bezahlen, wenn sie nach streng muslimischer Zeremonie abläuft. Und wenn Geld im Spiel ist, wird man in religiösen Dingen ja sehr tolerant und pragmatisch. Neben Schnute, der zum unromantischen Zeugungsakt einen Neun-Paragraphen-Vertrag mitgebracht hat, der genau festlegt, zu welchem Zeitpunkt der Nachwuchs über Hitler aufgeklärt wird, kommt auch noch Maryams Bruder ins Spiel: Jens Lamprecht spielt den labilen und untröstlichen Elias, der gerade von Camille (Jennifer Kornprobst/Sabine Weithöner) verlassen wurde. Der selbstverliebte Medienkünstler Jochen (Jürgen Herold) wiederum wurde von Maryam verlassen und ist gar nicht begeistert, dass sein Sohn noch ein Geschwisterchen bekommt. Und so passiert alles gleichzeitig: Zeugen und Sterben und das komplizierte Leben und Lieben zwischendurch: Anlass für jede Menge Slapstick. Für die Rahmenhandlung werden die Figuren auch noch zu Jochens Kunstinstallation herangezogen, bei der all die Dinge aufzählen, die man verlieren kann - Angehörige, Führerschein, Sonnenbrille. Das Leben ist ein Verlustgeschäft. Aber mit jedem Verlust gewinnt man auch an Erkenntnissen. Im Fall der vorgeführten Hipster ist es die Erkenntnis, wie schnell mal wieder die Masken fallen lässt. Denn auf den harten Prüfstand gestellt wird die inszenierte Toleranz und Hilfsbereitschaft der Sippschaft nicht nur, als sie mit der muslimischen Zwangsbeglückung konfrontiert wird, was die üblichen Ressentiments zutage fördert. Und den sonst eher selbstverzweifelten Elias geradezu euphorisiert, weil er plötzlich zum „Familienoberhaupt“ hochtraditionalisiert wird. Sondern noch pikanter wird es, als sich ein geflüchteter Cousin aus dem Irak anmeldet und konkrete Hilfe einfordert: Da ist es bald um die politische Korrektheit geschehen. Wie soll man anderen helfen, wenn‘s vom Timing her gerade nicht passt?
Mit einer Prise Ernsthaftigkeit, 4. Dezember 2019
Mit einer Prise Ernsthaftigkeit
(von Christoph Holbein)
»ein kurzweiliges und dennoch kritisches und mit einer starken Prise Ernsthaftigkeit gewürztes, tolles Theatervergnügen voller Lebendigkeit«
Sie gilt als die »lustigste Frau der deutschsprachigen Theaterlandschaft« – und was Yael Ronen mit ihrem Stück »Lost and Found« kreiert hat, unterstreicht nur diesen Ruf: Flott und kurzweilig erzählt die 1976 in Jerusalem geborene Autorin in ihrem Schauspiel ganz persönliche Geschichten und verpackt darin brisante weltpolitische Fragen. Diesen temporeichen, ironischen, komödiantischen Witz greift der Regisseur Christoph Roos in seiner Inszenierung in der Werkstatt des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) auf und lässt sein Ensemble äußerst erfrischend agieren.
Klar artikuliert und den Sprachwitz schön herausgearbeitet gewinnen die Schauspieler mit zunehmender Aufführungsdauer an Spielfreude und hauchen der Handlung nach anfänglich etwas statischer Agitation mit Videoeinspielungen auf den Oberkörpern der Protagonisten immer mehr Leben ein: Nach dem Tod ihres Vaters sehen sich die Lifestyle-Bloggerin Maryam und der Poetry-Slammer Elias mit enormen Beerdigungskosten konfrontiert. Der Vater, ein Iraker, war Atheist, dennoch möchte die Tochter das Angebot des Onkels Osama aus London annehmen, ein muslimisches Begräbnis zu finanzieren. Zur Bestattung reihen sich in den bunten Reigen Maryams Ex-Mann Jochen, ein gefeierter Video-Künstler, und Camille ein, Ex-Freundin von Elias. Und dann kommt auch noch Cousin Yousef, der aus dem Irak geflohen ist. Es ist also angerichtet für ein Spiel voller heißer Diskussionen, das sich im Verlauf der Aufführung aus seiner Sprachlastigkeit löst und trotz allen politischen Untertons sich flott und humorvoll entwickelt.
Die Gratwanderung zwischen menschlicher Tragödie, Grausamkeit, Leid, Bootsflüchtlingen und einem toten Kind am Strand und den mitunter banalen privaten Verlusten der Protagonisten gelingt, ohne abzugleiten. Die Autorin bricht die großen menschlichen Tragödien herunter auf kleine private Geschichten, und die Inszenierung in Tübingen vergisst dabei nicht aktuelle Bezüge zu setzen mit kleinen Schlaglichtern auf Rechtsruck und Klimawandel.
Roos arbeitet den Wortwitz heraus. Das Ensemble überzeugt mit einer sehr flott dargebotenen Sprache. Das ist zum Lachen, etwa wenn Maryam bei ihrem Wunsch nach einem zweiten Kind den schwulen Schnute als Samenspender einspannt. Das ist gut gespielt, zunehmend tempogeladen, witzig, ohne zu sehr in den Klamauk abzudriften, und engagiert. Vielsprechendes Mienenspiel und beredte Gestik paaren sich mit klaren, manchmal knallharten Worten und humorigen Details mit netten Pointen in einem guten Tempo. Die Ironie steigert sich mitunter zum Sarkasmus – und somit garantiert die Inszenierung ein kurzweiliges und dennoch kritisches und mit einer starken Prise Ernsthaftigkeit gewürztes, tolles Theatervergnügen voller Lebendigkeit.
Schwäbisches Tagblatt, 2. Dezember 2019
Fluchtpunkt Youssef, Spuk Godunow
(von Peter Ertle)
»Yael Ronen – das wird auch am LTT klar – ist zurecht eine derzeit hochgehandelte Theaterautorin. Komisch und durchaus boulevardesk, aber politisch, Fragen des Hier und Jetzt diskutierend, einfühlsam, witzig, gedankenreich. Ein wunderbares Stück in Christoph Roos’ leichter, genau gearbeiteter Inszenierung, von allen Schauspielern hervorragend gespielt.«
Reutlinger General-Anzeiger, 2. Dezember 2019
Zwei Schwangerschaften und ein Todesfall
(von Thomas Morawitzky)
»Was kann man verlieren, was lässt sich finden? Fünf Figuren lassen tief blicken ins Wertgefüge des hippen Zeitgenossen. Der Blick ist böse, aber Ronen serviert ihn komödiantisch – und das LTT bringt ihn treffsicher nach Tübingen.«
Was kann man verlieren, was lässt sich finden? Fünf Figuren geben Antwort auf diese Fragen in Yael Ronens Stück »Lost and Found« und lassen damit tief blicken ins Wertgefüge des hippen Zeitgenossen. Der Blick ist böse, aber Ronen serviert ihn komödiantisch – und das LTT bringt ihn, auf seiner Werkstattbühne, treffsicher nach Tübingen.
Was will die Frau, die da kopfüber an der Wand lehnt, die Beine hochreckt und sich konzentriert? Ganz klar: Sie will schwanger werden. Lisan Lantin spielt Maryam, die als Influencerin auf ihrem Instagram-Kanal sehr schnell Lebensweisheit absondert und von nichts mehr beunruhigt wird als von der Vorstellung, es könne zu spät für sie sein, um ein zweites Mal Mutter zu werden.
Deshalb wird geradezu konspirativ der schwule Freund Schnute als Samenspender engagiert. Gerade ist außerdem Maryams Vater gestorben; gemeinsam mit ihrem Bruder Elias sinnt sie nach über günstige Beisetzungsmöglichkeiten und bedauert es einmal sogar, dass nicht etwa die Pietät, sondern ein Paragraf es verbietet, die Asche des Erzeugers einfach über die Toilette zu entsorgen. Schnute (Nicolai Gonther) indes hat seine Schwierigkeiten, die Flüssigkeit, die Maryam später mittels Spritze ihrer Gebärmutter zuführen möchte, einem Einmachglas zu übergeben, in einem Krankenzimmer, in dem vielleicht gerade noch ein Toter lag. Elias (Jens Lamprecht) entpuppt sich als egozentrischer Waschlappen mit poetischen Ambitionen; Camille (Jennifer Kornprobst), seine Ex-Freundin, unterzog sich eben noch einer Hormonbehandlung, um im reifen Alter nochmals schwanger werden zu können. Und Jochen (Jürgen Herold), Maryams Ex-Freund, denkt vor allem an Preise und verarbeitet das familiäre Fiasko zur Video-Installation. Was also ist verloren? Die Mutter, der Vater, das Konzept von Familie, die Gelegenheit zur Versöhnung, viel Geld, viel Zeit, viele Gelegenheiten, Hoffnungen, die Heimat, Sonnenbrillen, Handschuhe, Schlüssel, Handys, das Bewusstsein, der Führerschein, die Unschuld (gleich zweimal), der Wille zu leben, der Wille zu sterben.
Fünf Schauspieler spielen fünf Menschen von heute, die es so vielleicht sogar wirklich gibt, spielen sie überzeugend, treiben mit ihren Charakterstudien und Yael Ronens bissig flotten Dialogen dem Publikum manchmal fast die Lachtränen in die Augen.
Katrin Buschings Bühnenbild zeigt nichts als eine leere Wohnung, fleckiges Metallgerüst der kahlen Wand; ein paar Kartons kommen dazu. Christoph Roos hat »Lost and Found« konsequent als Gesellschaftskomödie mit Drive und einer Spur von Slapstick inszeniert.
Roos und seine Dramaturgin Laura Guhl haben Yael Ronens Stück zudem ein wenig den württembergischen Gegebenheiten angepasst, deshalb ist öfter mal die Rede von teuren Wohnungen, natürlich in Stuttgart. Das erscheint nur konsequent. Die »sympathischen Bioladen-Egomanen«, die ein Rezensent der Wiener Uraufführung 2015 im Stück entdeckte, gibt es in Tübingen natürlich nicht, ganz ausgeschlossen. Und überhaupt: So plastisch, komisch, lebhaft die Figuren dieses Spiels auch gezeichnet sind – sympathisch sind sie nicht wirklich.
Yousef, der Cousin aus dem Irak, der anruft und um Hilfe bittet, erscheint im LTT gar nicht erst auf der Szene. Alle wollen sie helfen – das zumindest sagen sie – und alle sind aber allzu sehr beschäftigt mit ihren diversen Lifestyle-Neurosen. Gefunden haben sie zuletzt: eine neue Managerin, neue Follower, einen neuen Lebenssinn, der noch zu jung ist, um sich zu wehren, den Mut, die Polizei zu rufen, und eine Tasche.