Susanne Weckerle, Solveig Eger, Franziska Beyer · Foto: Martin Sigmund
Solveig Eger · Foto: Martin Sigmund
Solveig Eger, Franziska Beyer, Susanne Weckerle · Foto: Martin Sigmund
Solveig Eger, Susanne Weckerle, Franziska Beyer · Foto: Martin Sigmund
Solveig Eger · Foto: Martin Sigmund
Susanne Weckerle, Franziska Beyer, Solveig Eger · Foto: Martin Sigmund
Solveig Eger, Franziska Beyer, Susanne Weckerle · Foto: Martin Sigmund
Solveig Eger · Foto: Martin Sigmund

Kill Baby

Von Ivana Sokola · 15+


Schwäbisches Tagblatt, 10. Februar 2024

Frauendreifaltigkeit im sprechenden Hochhaus

(von Peter Ertle)

Annika Schäfer lässt Ivana Sokolas „Kill Baby“ im LTT/Oben das tun, was dieses Stück auch will: Abheben – und gleichzeitig die Bleigewichte des Lebens nachzeichnen.

Erst kommt Kitti, die junge Frau (Solveig Eger), und setzt sich, dann Viki (Franziska Beyer), die Mutter, und setzt sich hinter Kitti. Dann Sugar (Susanne Weckerle), die Großmutter, und setzt sich hinter Viki. So könnte auch ein spätes Stück von Samuel Beckett losgehen. Alle auf einem Stuhl. Ein Mehrgenerationengesamtfrauenkörper. Dann ein kurzes Straffen, Zucken, Reißen nach oben. Später wiederholt sich bei einem anderen der vielen von Regisseurin Annika Schäfer geschaffenen Dreifraubildern dieser kurze Moment, dieser Stich ins Leben.

Der aktuell in diesem Stück verhandelte Stich ist die Schwangerschaft der 17-jährigen Kitti. Sie wohnt mit Mutter und Großmutter in einer zu kleinen Wohnung in einem Hochhaus. Frühe Schwangerschaft und vaterloses Aufwachsen ist hier generationsübergreifend das Gesetz. Letzteres muss nicht schlimm sein, aber in dieser offenbar lebensprekären Dreifrauklause ist es wohl längst zum Krisensymptom geworden.

Abtreiben oder nicht? Rein inhaltistisch focussiert könnte man dies als Hauptfrage des Stücks anführen. Oder auch: Vom Hochhaus springen oder nicht? Denn Kitti überlegt es sich, das Stück ist in die Kapitel 23 Meter, 16 Meter, 11 Meter, 3 Meter und Null Meter eingeteilt. Doch landete man mit solchen Inhaltsangaben weit daneben.

Vielmehr geht es um das Beziehungsgeflecht, ein Schicksalsporträt der Frauen, um die Vermessung einer psychosozialen, gesellschaftlichen Situation. Und zwar in einer hochpoetischen, lyrischen, bisweilen surrealen Sprache. Die Poesie verleiht dem Sozialdrama Flügel, mit dem es abheben kann. Auch das Hochhaus selbst spricht, die einzige Männerstimme, in gewisser Weise ja auch ein Phallus, so ein Hochhaus, vom Gemüt her hier allerdings eher eine Urmutter oder ein ersehnter Urdaddy, machen wir es kurz: Das Leben. Mit seiner bekannten Ambivalenz aus Fürsorglichkeit und kosmischen Kaltwinden, die dann auch hörbar durch das LTT/Oben heulen. Immer wenn das Hochhaus spricht, wird die Bühne von einem Video gerahmt. Dann wird der Guckkasten plastisch und bewegt sich wie ein Raumschiff. Phantastisch! Phantastisch auch die vielen Dreifraubewegtbilder, die Regisseurin Annika Schäfer schafft, ihre gesamte Bildsprache, man könnte ein schönes Album zum Durchblättern daraus machen.

Stellenweise Liebe und Zärtlichkeit steckt in der Beziehung dieser drei Frauen, daneben viel Ermüdung, Harnisch, Gemeinheit. Und immer wenn zu viel Verständlichkeit droht, haut Ivana Sokola wieder eine ihrer lyrisch-erratischen Sätze rein. Die auch mal nerven können mit ihrer verrätselten Art der Depositionierung. In den gelungenen Fällen aber ist es sprachspielerisch konkrete Poesie auf dem schmalen Grat zwischen Selbstversicherung und Selbstverunsicherung, manchmal analytisch scharf, etwa wenn Viki einem auf die Worte „gefreut hat“ endenden Satz mit einem „haben könnte“ und schließlich einem „hätte“ andere Endungen hinterherstottert.

Wenn sie eine Sonne wär, wär sie eine müde überm Meer, sagt Kitti einmal. Oder auch nur: „Wir stimmen doch nie.“ Solch wehmütig-existenzialistischen Einsprengsel bilden einen Hallraum von erschreckender Schönheit. Im Bühnenhintergrund, auf das sichtdienlich das Fenster führt, sehen wir dann eventuell ein kontrastierend krass unmissverständliches Abtreibungsgeschehen im Bad.

Der Teig, den Großmutter Sugar knetet, dürfte nicht nur für das Frauenlos Haushaltsarbeit (es wird auch gewischt) stehen, sondern symbolisch wohl auch für das, was in Kitti wächst – und für das gewaltsam geschmeidige, schicksalhafte Ineinanderverbacktwerden dieser drei Frauen, die hier alle bruchstückhaft von ihrem Leben, ihren Lieben, den Männern, erzählen, dem jeweiligen sozialen Druck, den festgefügten Rollenbildern und einer sich wiederholenden Unfähigkeit (oder einem Unwillen), sich zu binden. Dass in diesem Hochhaus auf einer oberen Etage eine familiäre Männergeneration wohnt und unten drei Frauen, ist symptomatisch für diese Welt, in der die Geschlechter verkrampft getrennt ihr Leben fristen, sich eine 17-Jährige als Wüste fühlt und ihren Lover als Kaktus.

Dass ihr das Stück da eine von Udo Jürgens geborgte „Liebe ohne Leid“ wünscht oder zumindest kontrastreich in den Raum stellt, nebst dem Knefschen Wunsch nach dem bekannten Regen roter Rosen – ist zwar verständlich, und fürs Publikum ein Zuckerle, aber eben doch ein Stilbruch. Das Stück wird sich untreu. Man könnte auch sagen: Die Untreue gehört zum Stück. Denn das Zuckerle findet man auch in den pinkfarbenen Vorhängen (Bühne, Kostüme: Katharina Grof) und dem Vornamen der Großmutter.

Und letztlich wird alles von der klaren und stilvollen Handschrift der Regisseurin zusammengehalten, ihren stimmigen Setzungen, Pausen und Lichtwechseln, dem der Poesie des Stücks Rechnung tragenden Sprechrhythmus, unaufdringlich, aber den Zuschauern an den entscheidenden Stellen auf die Pelle rückend.

Und, entscheidet sie sich am Schluss für die Abtreibung? Springt sie? Wir spoilern nicht. Was „Kill Baby“ auf jeden Fall ist: Ein theatralischer Zeitlupensprung, der Protagonistin Boden unter den Füßen verschaffend, so oder so. Und für den Zuschauer springt – ein Theaterstück dabei heraus.

Unterm Strich

Mit Mutter und Großmutter in einer Wohnung leben und dann mit 17 schwanger. Ein lyrischer Text, ein sozialrealistischer, dramatischer Inhalt, eine klare Bildsprache, drei überzeugende Schauspielerinnen. Durch die teils rätselhafte poetische Kunstsprache sicher nicht Jederfraus (und Jedermanns) Sache. Das ist „Kill Baby“. Ein Arthouse-Theaterabend, wie gemacht fürs LTT-Oben.


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Reutlinger General-Anzeiger, 10. Februar 2024

Abtreibung im Puppenhaus

(von Thomas Morawitzky)

Das LTT zeigt Ivana Sokolas preisgekröntes Stück »Kill Baby«: Klassisch streng, verbittert und in Pink

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cul-tu-re.de, 9. Februar 2024

„Kill Baby“ im LTT – eine Frauensache

(von Martin Bernklau)

Das Tübinger Landestheater beginnt sein großes Premieren-Wochenende mit „Kill Baby“, einem sprachstarken Stück um Abtreibung.

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