Justin Hibbeler, Julia Staufer · Foto: Tobias Metz
Nicolai Gonther, Justin Hibbeler, Julia Staufer · Foto Tobias Metz
Julia Staufer, Justin Hibbeler · Foto: Tobias Metz
Justin Hibbeler; Gilbert Mieroph, Nicolai Gonther · Foto: Tobias Metz
Nicolai Gonther, Justin Hibbeler · Foto: Tobias Metz
Julia Staufer, Justin Hibbeler, Gilbert Mieroph · Foto: Tobias Metz
Nicolai Gonther, Justin Hibbeler, Julia Staufer · Foto Tobias Metz
Gilbert Mieroph, Julia Staufer, Justin Hibbeler, Nicolai Gonther · Foto: Tobias Metz
Justin Hibbeler · Foto: Tobias Metz

Der Prozess

nach dem Roman von Franz Kafka


Schwäbisches Tagblatt, 31. März 2021

Betrachten Sie mich als Traum!

(von Peter Ertle)

Im LTT wurde eine Grunderfahrung der Moderne vom prototypischen Roman zum Stück für
vier Schauspieler. Welcher Prozess warum auch immer: Er kommt nicht voran und stellt
doch alles in den Schatten.

[mehr lesen]


Reutlinger General-Anzeiger, 29. März 2021

Verloren in unwirklicher Bürokratie

(von Thomas Morawitzky)

Ein Spiel, das den Rand der Wirklichkeit bedrohlich weitet.

Man stelle sich vor, eines Morgens käme ein Mann ins Zimmer, den man dort noch niemals sah. Man stelle sich vor, eines Morgens würde man verhaftet. Franz Kafkas unvollendeter Roman »Der Prozess« gehört zu den bekanntesten Texten des 20. Jahrhunderts, vielfach interpretiert; er entstand zwischen 1914 und 1915, er rührt mit seinen Bildern einer endlos wuchernden, surrealen Bürokratie noch immer an existenzielle Ängste.

Das Landestheater Tübingen hat Kafkas Obsessionen nun eindringlich auf die Bühne gebracht. Jenke Nordalm, spezialisiert auch auf die Dramatisierung literarischer Vorlagen, hat ihre erdrückende Zwanghaftigkeit in Szene gesetzt: Bizarr, dunkel, ambivalent, nah am Original.

Nordalm hat darauf verzichtet, Kafkas Bilder der Gegenwart anzugleichen. Vesna Hiltmann schuf Kostüme, die aus einer gespenstischen Vergangenheit zu stammen scheinen. Ihr Bühnenbild ist in dunklen Grau- und Brauntönen gehalten: Der Ausblick auf einen aschgrauen Himmel, zerschnitten von Stromleitungen; eine Wand wie voller Rost, in der die schemenhaften Gesichter vieler Menschen schimmern; eine Wand, die eine Kreidetafel ist, auf die die Spieler hektisch Zeichen werfen werden. Erst steht auf ihr der Text der Türhüterlegende, die Kafka in seinen Roman aufnahm. Es gibt einen alten Heizkörper, ein Krankenhaustischchen, eine kahle Treppe findet sich nahebei. Die Bühne dreht sich, die Stationen des Alptraums entstehen: K.s Zimmer, der Sitzungssaal, die Kanzleien.

Zuerst spielt Justin Hibbeler den Josef K.: Ein junger Angestellter, zu Hause. Julia Staufer und Nicolai Gonther sind die Wächter, die ihn heimsuchen: Mit verstellten Bewegungsabläufen, mit zurückgestreckten Armen, vorgeschobenen Hüften, driften sie durch das Zimmer, wie seltsame Puppen oder verunglückte Animationen, boshaft, bedrohlich, unwirklich. Gilbert Mieroph ist noch Frau Grubach, K.s Vermieterin – mit aufgesetzten Brüsten und vergrößerter Mitte wiegt er sich in kokettierender Leibesfülle. Julia Staufer, mit Strumpfhaltern und Korsett, wird zu Fräulein Bürstner, die neugierige Versuchung von nebenan, die durchs Fenster zu Josef K. hereinsteigt.

Unmerklich, dann aber doch plötzlich ist der Moment da, in dem der Zuschauer entdeckt, dass die Schauspieler ihre Rollen getauscht haben: Nun ist Nicolai Gonther, kenntlich durch einen staubigen schwarzen Mantel, in Josef K.s Rolle geschlüpft. Später wird Julia Staufer der Angeklagte sein; ganz zuletzt, als K. sich auflehnt, wird Gilbert Mieroph ihn verkörpern. Die Wechsel erschließen sich zuerst über die Kostüme, Accessoires. Die Schauspieler bringen neue Facetten der Figur zur Geltung – die Vorsicht, Skepsis, Angst und Wut, die Verunsicherung und Verzweiflung. K.s Identität löst sich auf, gewinnt dann wieder an Kontur: Ein Spiel, das den Rand der Wirklichkeit bedrohlich weitet. »Sie sind kein besserer Mensch als ich«, sagt eine der Traumfiguren zu K. »Sie haben auch einen Prozess, Sie sind auch angeklagt.«

Hier in dieser Zwischenwelt werden Schuhe zu Hufen, stehen bunte Zirkuspodeste im Gerichtssaal, essen Angeklagte ihre Papiere, wälzt sich der Advokat Huld (Mieroph) nicht in einem Bett, sondern in einer alten Wanne. Ulf Steinhauers Musik trägt manches noch zur Wirkung dieser Szenen bei.

Als »Der Prozess« Premiere feiert, findet sich auch Petra Olschowski, Staatssekretärin im Landesministerium für Kunst und Wissenschaft, im Publikum. Gemeinsam mit Thorsten Weckherlin, dem Intendanten des LTT, eröffnet sie den Abend mit spürbarem Enthusiasmus für das zurückgekehrte Theater. Zumindest bis 18. April soll das »Tübinger Modell« mit geöffneter Kultur bei Schnelltestpflicht fürs Publikum weitergehen.


[schliessen]






© 2016     Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen Impressum