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Von Jörn Klare · Uraufführung
Münchner Merkur, 20. Oktober 2025
Grandios: LTT in Landsberg mit „... worin noch niemand war – ein Heimatabend“
(von Susanne Greiner)
„Ein Heimatabend“: Das Tübinger LTT brilliert mit dem Stück „... worin noch niemand war“. Das Gastspiel im Landsberger Stadttheater begeistert.
Worte sind Hülsen. Sie selbst und das, was sie bezeichnen, sind uneins. Differieren schon die Vorstellungen von etwas so vermeintlich Klarem wie „Brot“, wird es bei Abstraktem noch kniffliger. Zum Beispiel bei „Heimat“. Was hinter dem Begriff steckt (oder was nicht), hat Jörn Klare in „... worin noch niemand war – ein Heimatabend“ für das LTT herausgearbeitet. Klug, vielschichtig, überraschend leicht – und hoffnungsvoll. Ein großartiger Abend.
Schon diese fiese Schmeißfliege stört die Vogelgezwitscher-Heimatidylle. Und dann müssen die Kirchturmglocken auch noch gegen Verkehrslärm anbimmeln. Heimat ist zwiespältig, das machen schon die ersten Momente in Sascha Flockes Inszenierung klar. Dazu dieser verfremdete, brecht‘sche bis rockige Schubert, der den Abend begleiten wird. Zu Beginn das „Gute Nacht“ der Winterreise, vom Ensemble zu futuristisch-waberndem Synthi gesungen. „Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh‘ ich wieder aus“: die Worte, die den Abend rahmen. Denn Heimat, war der in Tübingen lebende (und sterbende) Ernst Bloch sicher, bleibt unerreicht.
Bloch ist der Ehrengast an diesem exzellenten, wunderbaren Theaterabend. Alle warten auf ihn – ohne Landstraße, ohne kahlen Baum. Aber ‚Ernst‘ (so viel Vertrautheit darf das Tübinger LTT schon wagen) verspätet sich, wie das Ensemble in den das Stück durchbrechenden Telefonanrufen des Philosophen erfahren muss. Dann eben ohne ihn, sagen sich Insa Jebens, Rolf Kindermann, Leo Kramer, Sarah Liebert und Gilbert Mieroph – die sich an diesem Abend als Rolle ‚selbstfremd‘ (Stichwort Identität) selbst spielen und zum Sprachrohr anderer und deren Heimat-Begriffe werden.
Die Heimat-Definitionsversuche werden ihnen über Kopfhörer eingeflüstert: Inhalte aus Gesprächen mit Menschen, die der Autor Klare bei seiner Recherche im ‚Ländle‘ getroffen hat. Die Dorfbewohnerin, die raus wollte und wieder in die Enge zurückkehrt. Sprache als Heimat, die schon beim Umzug ins Nachbarbundesland verloren gehen kann – Heimat als Ausgrenzung. Geflüchtete, die ihre Heimat an Krieg und Angst verloren haben. Der digitale Nomade (zwischen den Wellenrausch- und Papageienlauten seiner Mitspieler), die Heimat im Nirgendwo des Laptops. Heimat historisch gesehen, Heimat im Blut-und-Boden-Begriff der NS-Zeit. Oder Heimat als verortete Erinnerung an das Groß-Werden, erste Worte, Gefühle, Erfahrungen, im Nachhinein zum Ideal verklärt. Aber „was für ein Mensch wärst du ohne diesen Ort“, fragt das grandios zwischen Spiel und Dokumentationstheater agierende Ensemble.
Und immer wieder blitzt der Humor. Im Warm-Up-Acting zum Thema „heimelig“, nicht zu verwechseln mit heimlich – ja, auch Etymologie lernt das Publikum an diesem facettenreichen Abend. Oder in der brillanten Szene, in der Kindermann in die Rolle „Heimat“ schlüpft und ein ‚Beziehungsgespräch‘ mit Liebert führt: „Ich habe dich vermisst.“ – „Du hast mich verlassen.“ Und: „Ich hatte dich größer in Erinnerung.“
Während des Kreisens um den Begriff „Heimat“ werden Bäume gepflanzt, Rollrasen ausgerollt, Hauswände aufgestellt und verschoben: Machen wir es uns heimelig, in Jogginghose und Jeans (Bühne und Kostüme: Doreen Back). Ein „Heim“, das nicht standhält, wenn am Ende der Hausbauversuch krachend in sich zusammenstürzt.
Heimat ist nichts Festes. Oder wie ‚Friedrich‘ (Hölderlin, auch mit ihm ist das LTT per Du) am Telefon sagt: Heimat als „Zustand der Seele, die ständige, nie vollendete Rückkehr ins innere Zuhause“. Vielleicht, so ist an diesem Abend zu hören, ist Heimat auch der Ort, wo man begraben sein möchte. Hölderlin, im Refugium des Hölderlinturms gestorben, liegt auf dem Tübinger Stadtfriedhof; Ehrengast Bloch auf dem Tübinger Bergfriedhof. Ob ihnen Tübingen Heimat war?
Am Ende kommt Bloch doch noch, und das hoch vier: Jebens, Kindermann, Liebert und Mieroph zitieren und lesen aus Blochs „Prinzip Hoffnung“: Heimat, heißt es da, sei ein Zustand der Versöhnung, den wir immer neu erschaffen müssen, der Ort der besseren Zukunft, „an dem noch niemand war“. Dass es diesen Ort dennoch gibt, müssen wir hoffen können, auch wenn es zum Konzept „Hoffnung“ gehört, dass sie enttäuscht werden kann. Als Rezept empfiehlt der Philosoph: ins Gelingen verliebt sein. „Optimismus mit Trauerflor, kämpfend.“
Schwarzwälder Bote, 15. Oktober 2025
Eine facettenreiche Reise in die Gefühle
(von Christoph Holbein)
Die LTT-Inszenierung erweist sich als runde Sache mit viel Kreativität, Einfallsreichtum und jeder Menge Input, Anregungen und ernsten Inhalten.
„Was ist Heimat?“: eine Herausforderung, eine verortete Erinnerung, der Ort, an dem Menschen leben, denen man vertraut, der Gegenentwurf zur Gegenwart, der Wunschort voller Geborgenheit, der Fleck, an dem man begraben werden möchte, der Seele Sehnsuchtsort oder ein Zustand der Versöhnung. Eine Antwort darauf versucht Jörn Klare mit seiner Auftragsarbeit für das Landestheater Tübingen (LTT) zu geben. Die Inszenierung liefert dazu eine vielstimmige Collage aus den Geschichten und Schicksalen der Menschen, die der Dramatiker „im Ländle“ zusammengetragen hat.
Regisseur Sascha Flocken gießt das in der LTT-Werkstatt in eine mit Musik, Gesang und Live-Aufnahmen per Videokamera untermalte Inszenierung, bei der die Schauspieler auch ihre instrumentalen Fähigkeiten an Klarinette, Säge, Kontrabass und E-Gitarre unter Beweis stellen. Begleitet vom Liederzyklus „Winterreise“ des Komponisten Franz Schubert – „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ – erzählen Insa Jebens, Rolf Kindermann, Leo Kramer, Sarah Liebert und Gilbert Mieroph ihre persönlichen Lebensdaten und listen auf, welche örtlichen Stationen sie bereits durchlaufen haben.
Der Autor stellt in den Mittelpunkt seines Werkes die Aussagen von Menschen, denen er bei seinen Recherchen begegnet ist und die ihre Erfahrungen mit „Heimat“ und „Heimatlosigkeit“ mitteilen. Und so rezitieren die Schauspieler, die Kopfhörer im Ohr und den kleinen Kassettenrekorder in der Hand, deren Stimmen. Das wirkt streckenweise improvisiert, aber auf charmante Art. Es geht um den Verlust der Heimat, um digitale Nomaden, um den ersten Liebeskummer, um die Frage: „Was mache ich hier, was soll ich hier?“ Es geht um Menschen, die sich in ihrem Dorf, in dem die Gardinen Augen haben, nicht mehr wohlfühlen, und um diejenigen, die auf der Flucht sind, etwa vor den Taliban oder aus Syrien: „Die Seele habe ich zurückgelassen in der Heimat, der Körper ist hier.“
Das ist immer wieder witzig persifliert und eingebettet in den historischen Zusammenhang, wie sich der Heimatbegriff gewandelt hat zwischen Heimatliedern, Heimatfilmen, Heimatvereinen und der Erkenntnis: „Ich habe meine Heimat verlassen, die Heimat aber nicht mich.“ Zwischen der Heimatkonjunktur, der Gier nach einer heilen Welt und der nationalsozialistischen Ideologie von Blut und Boden. Wenn mit dem Baseballschläger der Gartenzwerg zertrümmert wird, offenbart sich, wie der Begriff „Heimat“ für die Propaganda ausgebeutet wird.
Damit wird es politisch, ironisch und sarkastisch gefärbt und aktuell mit Blick auf Klimawandel, Aufrüstung, Künstliche Intelligenz und Überfischung. Das Ensemble ist aufgefordert, die schöne Heimat vorzuspielen, körperlich Wärme und Heimeligkeit darzustellen. Es entstehen poetische Bilder und anrührende Dialoge, wie der zwischen dem Menschen, der abgehauen ist, und der verlassenen Heimat. Im Spiel im Spiel lässt Regisseur Sascha Flocken theaterpädagogisch untermalt kleine Gags passend einflechten.
Und während beim Umbau auf offener Bühne die Wände donnernd einstürzen, und die Regie mit irren Einfällen jongliert, bahnt sich die Botschaft ihren Weg, dass Heimat eine Solidargemeinschaft ist, etwas Verbindendes, auch wenn noch viel zu tun und es ein mühsamer Weg ist, damit alternative Lebensformen ihre Heimat finden und NSU, Solingen, Hanau, AfD und „Remigration“ überwunden werden. Im Kampf zwischen Optimismus und Trauerflor darf dann zum Schluss der verspätete „Ehrengast“ Ernst Bloch auftreten mit dicker Brille und Pfeife in vierfacher Ausführung auf dem Sofa sitzend und aus seinem „Das Prinzip Hoffnung“ für eine soziale Gerechtigkeit als universelle Heimat für alle plädieren. Mit ihm und Franz Schubert schließt der Abend, der sich in der LTT-Inszenierung als runde Sache erweist mit viel Kreativität, Einfallsreichtum und jeder Menge Input, Anregungen und ernsten Inhalten.
Theater der Zeit, 15. Oktober 2025
Heimat in der ganzen Welt wiederfinden
(von Elisabeth Maier)
Obwohl Klare seinen „Heimatabend“ in der Universitätsstadt Tübingen verortet, schweift sein Blick in die Welt. Das macht dieses Musiktheater so besonders.
Auf dem Kunstrasen stehen Gartenzwerge. Eine Fototapete mit grasenden Kühen zieht die Blicke auf sich. Im Zentrum dieser Kulisse ist ein Fenster mit heruntergezogener Jalousie. Durch einen Schlitz gafft der Schauspieler Rolf Kindermann ins Publikum. In diesem Augenblick fällt die Idylle auseinander. Bespitzeln die Menschen einander? Mit subtilen Bildern wie diesem bringt Regisseur Sascha Flocken die Uraufführung „…worin noch niemand war – ein Heimatabend“ am Landestheater Tübingen auf die Bühne. In der verstörenden Produktion betrachtet der Autor und Journalist Jörn Klare den Heimatbegriff aus einer weltoffenen Perspektive. So deutet er gängige Narrative um.
Für rechtsradikale und wertkonservative Gruppen ist „Heimat“ ein Kampfbegriff. Das macht es schwer, unbefangen damit umzugehen. Für geflüchtete Menschen aber ist das Wiederfinden einer Heimat mit tiefer Sehnsucht besetzt. Und auch für einen linken Denker wie den Philosophen Ernst Bloch, der in Tübingen lebte, ist Heimat ein großes Thema. Diese Widersprüchlichkeit reizt den Autor und Journalisten Jörn Klare, der seit 2016 Theaterstücke schreibt. Im März 2016 kam beim Ullstein Verlag der Band „Nach Hause gehen: eine Heimatsuche“ heraus. Diesen Weg hat der 60-Jährige auch körperlich nachempfunden. Der Wahl-Berliner ging an 31 Tagen 600 Kilometer zu Fuß in seine Ursprungsheimat Hohenlimburg.
Mit Biss taucht das fünfköpfige Ensemble des Landestheaters in die musikalisch-literarische Revue ein. Der Abend beginnt mit der „Winterreise“ des Komponisten Franz Schubert: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.“ Das kommentieren die Schauspieler mit ihren eigenen Erfahrungen: „Schwaben ist scheiße!“ sagt Insa Jebens. „RT ist noch beschissener“ kontert Gilbert Mieroph, der die Stadt Reutlingen nicht mal aussprechen mag. Das gnadenloseste Urteil über die Universitätsstadt fällt Rolf Kindermann: „Tübingen ist am allerbeschissensten.“ Was sich anhört wie vergnügliches Geplänkel, hat einen ernsten Hintergrund. Die Wortfetzen spiegeln eine Leere, die der Verlust einer Heimat mit sich bringt. Wie sich das anfühlt, wissen Schauspieler:innen nur zu gut, wenn sie von Engagement zu Engagement ziehen.
Ironische Schlenker wagt Doreen Back bei den Kostümen wir auch beim Bühnenraum. Die Akteur:innen tragen trendige Nadelstreifenanzüge mit Ketten und Ansteckern. Das steht im krassen Kontrast zu den Heimatbildern aus der Wirtschaftswunderzeit, die aus Familienalben entlehnt scheinen. Videoclips schlagen Brücken zum dokumentarischen Charakter des Auftragswerks, das Klare für die Tübinger Bühne geschrieben hat.
In Gesprächen mit Vertriebenen, Geschäftsleuten und Geflüchteten hat Jörn Klare den Heimatbegriff sehr unterschiedlich betrachtet. Insa Jebens fühlt sich in die zerrissene Seele eines Dorfkinds hinein, das sich in der früheren Heimat fremd fühlt. Sarah Liebert lenkt den Blick auf junge Menschen in Afghanistan, die in ihren Dörfern jeden Tag um ihr Leben fürchten müssen. Mit Laptop und zwei Koffern reist Gilbert Mierophs digitaler Nomade um die Welt. In der global vernetzten Lebenswirklichkeit findet „Heimat“ zunehmend in den Köpfen statt. Dass sich auch ein großer, aber zerrissener Dichter wie Friedrich Hölderlin nach Heimat sehnte, bringt Leo Kramer schön und kraftvoll zum Klingen. In seinem Gedicht „Heimat“ sehnt sich der Dichter, der Zeit seines Lebens nach einem Halt in der Welt suchte, nach den „Wäldern der Jugend“ zurück.
In der knapp zweistündigen Revue gelingt Jörn Klare das Kunststück, die Komplexität des Heimatbegriffs zu erfassen. Von den Schlachtfeldern im Libanon bewegt sich der Abend zurück in die verschlafenen Dörfer, in denen junge Menschen verkümmern. Dass die fünf Schauspieler die Komödienkunst brillant beherrschen, kommt dem entgegen. Jan Paul Wege hat eine Musik geschrieben, die sich von der leichten Liedkunst der Romantik über das Volkslied in schwere, bedrückte Klanglandschaften bewegt. Die Vielstimmigkeit, wie sie Klare in den Texten anlegt, spiegelt sich in den Kompositionen wider. Obwohl Klare seinen „Heimatabend“ in der Universitätsstadt Tübingen verortet, schweift sein Blick in die Welt. Das macht dieses Musiktheater so besonders.
Schwäbisches Tagblatt, 8. Oktober 2025
(von Peter Ertle)
Unbedingt anschauen! „… worin noch niemand war“ sucht am LTT nach „Heimat“ und findet mehr als eine, jenseits von Kitsch, Provinzialität und Nationalismus.
Der Stargast, für den zu Beginn die Showgasse gebildet wird, kommt erstmal nicht. Mehrmals an diesem Abend wird er noch anrufen. Alle hetzen sie dann zum Telefon, eine nimmt ab: „Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen, Jebens am Apparat.“ Oder: Mieroph. Oder: Kramer. Liebert. Kindermann.
Wenn man die Namen dieses Theaters mal so vollständig ausspricht, hat man mit Württemberg, Hohenzollern, Tübingen und Reutlingen schon vier Ortsbezeichnungen, damit vier mögliche Heimaten. Und wenn die Schauspieler, was sie anfangs auch tun, mal aufzählen, wo sie herkommen und bislang gelebt haben, dann kommt man bei Jebens, Kindermann, Kramer, Liebert und Mieroph auf – wir haben jetzt nicht genau mitgezählt – so um die vierzig Stationen, allesamt potenzielle Heimaten.
Potentiell – weil: was das ist, Heimat, das weiß ja niemand so genau, obwohl alle eine in sich herumtragen, zumindest das Gefühl ihrer Abwesenheit: Heimat. Sie zu suchen, zu umkreisen, infrage zu stellen, ist dieser Abend angetreten. Der Stargast, selbstverständlich ist das die Heimat selbst, wird, wie Godot, nie kommen, vielleicht weil sie etwas ist, „worin noch niemand war“, so der Bloch zitierende Titel dieses Stücks. Am Ende dieses Abends werden wir aber eine ausreichende Ahnung von ihr bekommen haben, man kann sagen: Sie ist angekommen. Tatsächlich sitzt sie dann auch auf dem Sofa, vielfältig, wie sie ist gleich fünfgestaltig – im übertragenen Sinn. Konkret handelt es sich um Bloch, beziehungsweise Ernst, so wird er am Telefon ja angesprochen. Und ernst ist ja auch der Umgang mit der Heimat in aller Regel, ernst und schwer oder zumindest sehr tümlich.
Ganz anders dieser Abend. Er ist spielerisch und leicht, und doch ernsthaft. Stückeschreiber Jörn Klare, das zeigte er schon beim LTT-Stück „Vom Wert des Leberkäsweckles“ theatralisiert journalistische und wissenschaftliche Dokumentation. Den zentralen Teil dieses Abends bilden Interviews mit ganz normalen Menschen, ein Stück empirischer Kulturwissenschaft. Andere Teile sind ein bisschen Etymologie, dann geht es in Soziologie und Politikwissenschaft, werden die Entstehung des Begriffs Heimat und seine bisherigen Hochkonjunkturen kausal gemacht, ökonomisch und politisch eingebettet.
Und da soll Theater rauskommen und kein Essay, kein Lehrbuch? Genau, das wird hier, unter der Regie von Sascha Flocken, zu einem äußerst kurzweiligen, liebenswerten, charmanten Theaterabend. Keine Belehrung, sondern: Gespräch, Geschichten, Spiel. Wie jenes ganz berückende Duett zwischen der Heimat (hier: Rolf Kindermann) und einer, die sie verlassen hat (Sarah Liebert). Oder jener probenähnliche Tollpatschversuch, Heimatgefühl qua Schauspielanimation direkt ins Publikum schwappen zu lassen.
Das mobile Bühnenbild (Doreen Back) wird dauernd verschoben, Symbolik für die sich stets ändernden Facetten des Heimatbegriffs, in erster Linie optische Abwechslung: Immer entstehen neue Spielflächen für die Akteure, die wechselnden Lichtsequenzen, die Videos.
Gegen Schluss wird aus allen Bühnenelementen immer deutlicher dies eine, gemeinsame Haus gebaut, aber ach, dauernd fällt eine Wand um, Heimat hält nicht. Zwischendrin ruft immer Ernst an, er ist noch verhindert. Einmal ist sogar Friedrich dran, Hölderlin. Mieroph schreibt mit, was er sagt. Geht schon etwas in die Blochsche Richtung. Auch Franz ist da, Schubert, nicht am Telefon, aber in der Musik des Abends. Die Liebe, vielleicht ja auch die Heimat, liebt das Wandern, vom einen zu dem anderen (Musikalische Leitung: Jan Paul Werge).
Wie gesagt: Zentral in diesem Stück sind die Interviews, Selbstauskünfte, die vorführen, was Heimat jeweils sein könnte. Vom digitalen Nomaden, der im Moment auf einer Südseeinsel lebt (exotische Tiergeräusche: Ensemble) und nur einen Laptop braucht über die junge Frau aus dem Bergdorf (Insa Jebens), die ihr Leben lang nicht rauskommt aus Enge und Verantwortungsgeflecht, bis hin zu jenem Mann (Leo Kramer), der sich fürs Kloster entschied, aber auch dort keine Heimat fand, sondern nur eine Vorübung aufs heimatlich vorgestellte Jenseits. Nicht zu vergessen die Fluchterfahrungen, die uns nach Damaskus (Rolf Kindermann) oder zu den Taliban mitnehmen und dann wieder mitten nach Deutschland. Auch was es heißt, als türkischstämmige Deutsche in Holzgerlingen aufzuwachsen (Sarah Liebert), erfahren wir.
Dass Heimat ohne Gestaltung, Grenzen und Regeln wohl nicht auskommt, weil sonst einzig das Recht des Stärkeren herrscht, kann man aus einem Streitgespräch mitnehmen, aber eben nicht als Ergebnis, sondern als Position eines Streitfalls. Welche Deformation es allerdings darstellt, Heimat als fremdenfeindliche Besitzstands- oder Genpoolwahrung misszuverstehen, das braucht dieser Abend gar nicht auszusprechen. Er atmet es mit jeder Pore aus, einfach, indem er zeigt, was der Fall ist. Mit Bloch gesprochen: Die Zuschauer befanden sich zwei Stunden lang in einem Vorschein der Heimat. Riesiger, langanhaltender Applaus in der Werkstatt. Man wünscht diesem Stück mehrere ausverkaufte Spielzeiten.
Reutlinger General-Anzeiger, 6. Oktober 2025
Die Säge singt am Lindenbaum: Das Tübinger LTT fragt, was Heimat ist
(von Thomas Morawitzky)
Was ist Heimat? Ein Begriff geht um und keiner weiß, was soll er bedeuten. Das LTT versucht eine urkomische und gescheite Aufklärung mit Jörn Klares »...worin noch niemand war«. Mit dabei: ein prominenter Ehrengast.
Wo kommt einer, wo kommt eine her? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn zuletzt führt sie zurück in
den Mutterleib. Was also ist Heimat? Jörn Klare, der vor drei Jahren Tübingen das Stück »Vom Wert des Leberkäsweckles« auf den Leib schrieb, hat nun mit »… worin noch niemand war« einen Heimatabend verfasst als ein »genuin regionales Auftragswerk«. Am Samstagabend feierte es Premiere und entpuppte sich als treffend frecher Rundumschlag mit nachdenklicher Tendenz.
Zuerst treten sie in Nadelstreifenjacketts auf, dekoriert mit Abzeichen, Broschen, Ketten, metallenem Edelweis (Bühne und Kostüme: Doreen Back). Sie singen: »Es zieht ein Mondenschatten / als mein Gefährte mit …«. Der Wanderer verlässt das traute Heim, geht in die kalte Welt. Franz Schuberts »Winterreise« wird ein wiederkehrendes Motiv der Inszenierung – und die Ernsthaftigkeit, mit der Insa Jebens, Rolf Kindermann, Leo Kramer, Sarah Liebert und Gilbert Mieroph ihr erstes Lied anstimmen, mit geradezu surrealer Keyboardbegleitung (musikalische Leitung: Jan Paul Werge), kippt das schmerzliche Heimweh bereits ins herzlich Urkomische. Da sitzen sie, die fünf Darsteller, und sagen ihre Meinung: »Schwaben – ist scheiße!« – »Reutlingen – ist noch beschissener!« – »Tübingen – ist am allerbeschissensten!« – »Boah! Der Neckar!« – ein Würgen.
Die Schmähung wird als Test enttarnt, das Ensemble gesteht, dass es die Heimatgefühle der Zuschauer provozieren wollte. Diese erfahren, wo die Schauspieler herkommen – Baden-Württemberg ist es in keinem Fall. Ein Überraschungsgast kündigt sich an. Gelegentlich telefoniert er, um seine Verspätung zu entschuldigen. Auch Hölderlin klingelt irgendwann einmal und sagt sein Wort zur Heimat.
Viele Definitionen liefert das Stück. Heimat als verortete Erinnerung? Erste Worte, erste Liebe, Klassenzimmer. Dann: Stimmen von Bändern, Kassettenrekordern, die die Schauspieler umhertragen. Jörn Klare hat recherchiert, hat Aussagen von Menschen zur Heimat gesammelt. Immer mehr Biografien drängen herein, werden von den Schauspielern aufgenommen, fortgeführt.
Gilbert Mieroph wird zu einem »digital Nomad«, einem Menschen, dessen Heimat eine sichere Internet-Verbindung ist, der nirgendwo lebt, überall arbeitet, zum Beispiel in Bali. Hinter ihm, verdeckt durch einen Vorhang, kreischen und flattern die anderen Schauspieler als Möwen. Insa Jebens und Sarah Liebert sprechen von beengten Verhältnissen, von den Regeln im Dorf. »Eigenwillig war ein Schimpfwort!« Bei Jebens ist es offenkundig die deutsche Provinz mit ihren Nebenerwerbslandwirten – die Heimatszene, die Liebert in einem Monolog aufruft, spielt anderswo: »Menschen wie wir wurden von den Taliban jeden Freitag auf öffentlichen Plätzen aufgehängt.«
Rolf Kindermann leiht einer Erzählung über die Flucht aus Syrien seine Stimme – stockend, schwer. »Ich habe meine Heimat verlassen, aber meine Heimat hat mich nicht verlassen. Das können viele nicht verstehen.« Und: »Heimat ist nicht da, wo man geboren wurde, sondern dort, wo man begraben werden möchte.« Ein Abend, der leicht begann, sinkt plötzlich bleischwer ins Gemüt – und steigt wieder auf.
Kindermann spielt die singende Säge, wenn das Ensemble das Lied vom Lindenbaum anstimmt. Gitarre, Kontrabass, andere Instrumente kommen ins Spiel. Sascha Flocken führte Regie bei diesem materialreichen Abend, der in viele Richtungen zugleich strebt, persönliche Aussagen und historische Fakten verbindet, in zwei Stunden mit großer Verve über die Bühne fegt und das Klischee der Heimat, das so oft von Werbung und Politik missbrauchte Wort, immer wieder köstlich implodieren lässt. Zuletzt weiß jeder: Die Heimat ist viel älter als die Nation, der Nationalsozialismus war ein Betrug und Hitler der große Heimatzerstörer.
Was aber bleibt von der Heimat? Das Häuschen, das die Schauspieler sich auf der Bühne bauen wollen, das mit lautem Knall in sich zusammenstürzt? Der ausgerollte Kunstrasen, der zerdepperte Gartenzwerg? Der Ehrengast trifft ein, es ist Ernst Bloch, verstorben 1977 in Tübingen. Er verkündet, dass der Mensch ein utopisches Tier sein muss und die Heimat in der Zukunft liege. Leo Kramer spielt den Interviewer, Insa Jebens, Rolf Kindermann, Sarah Liebert und Gilbert Mieroph sitzen auf der hellbraunen Couch vor dem falschen grünen Tannenbaum und spielen vierfach den Bloch. Ihre Philosophengesichter, hinter runden Brillen, muss man gesehen haben.
cul-tu-re.de online, 5. Oktober 2025
(von Martin Bernklau)
In der LTT-Werkstatt hatte Jörn Klares „… worin noch niemand war – ein Heimatabend“ seine umjubelte Uraufführung
In der Stadt, wo Ernst Bloch, der Pfeife rauchende Philosoph konkreter Utopie, eine Art letzter Heimat und seine letzte Ruhestätte fand, kommt ein Heimatabend natürlich nicht ohne dessen berühmte letzte Worte aus dem „Prinzip Hoffnung“ aus. Aber auch Friedrich Hölderlin, ein Heimatdichter ganz anderer Art, durfte nicht fehlen. Als Ehrengäste zur Uraufführung von Jörn Klares „…worin noch niemand war – ein Heimatabend“ in der ausverkauften LTT-Werkstatt am Samstag vertrösteten Denker und Dichter das Schauspieler-Quintett immer wieder telefonisch.
Am Anfang saßen sie in Orden behängten schwarzen Fantasieuniformen auf der Couch – und am Ende wieder: die Pfeife und das „Prinzip Hoffnung“ in der Hand, rezitierend, beschwörend. Sie nannten sich bei den Vornamen und gestalteten diese theatralische Collage als Sprachrohre ganz verschiedener Heimatsuchender, Heimatvertriebener und Fremder, von Flüchtlingen in neuen Heimaten, die das nicht werden, sondern nur Wohnort, bestenfalls zuhause bleiben. Sie schlüpften in deren Rollen, auch in allegorische, tobten ihre Wut aus oder zeigten ihre tiefe Trauer und machten Musik mit vielerlei Instrumenten und Gesang aus der „Winterreise“ Franz Schuberts.
Ein multimediales Bühnenereignis ist Regisseur Sascha Flocken da gelungen mit seinem Quintett aus Insa Jebens, Rolf Kindermann, den LTT-Neuzugängen Sarah Liebert und Leo Kramer – sein Vater Jan Josef Liefers und dessen Partnerin Anna Loos gaben der Premiere ihre Ehre – sowie einem herausragenden Gilbert Mieroph. Alle stellen sich mit ihrer Herkunft vor und mit dem Jahr ihrer Ankunft in Tübingen. Für die Bühne und die Kostüme, einfallsreich und variabel, war Doreen Back verantwortlich, für die Musik von den Winterreise-Variationen bis zum wilden, kreischenden Gitarren-Hardrock Jan Paul Werge.
Heimat ist Sehnsucht, ist Seelenort, sagt Hölderlin. Heimat ist, wo man begraben werden will, sagt Sarah als Aische aus Holzgerlingen, die den BWL-Master macht und genervt ist von den Fragen, wo sie denn eigentlich herkommt. Den Großvater, der so stolz war auf seinen Daimler, haben sie in der Türkei begraben. Heimat ist etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“, sagt der Philosoph, dessen Sprache so oft nach Dichtung klingt. Am Ende zitieren sie Ernst Bloch auf der Couch, die sie schon zu Beginn bevölkert haben, um den Begriff zu analysieren – und schauspielerisch mit einer Collage, einem Cocktail von Szenen, Figuren und Liedern zu füllen wie ein Gefäß: Heimat.
Alle sind sie Vertriebene. Alle suchen sie die Heimat mit der Seele. Alle haben sie Heimweh. Der alte Mann aus dem Off, der in der Jugend seine schlesische Heimat verlor, von Oranienburg im Osten nach Bielefeld rübermachte, Schneider lernte und dann ins Kloster ging, um sich sechzig Jahre lang auf seine künftige Heimat im Himmel vorzubereiten; die junge Frau (Sarah Liebert), die als Kind vorm syrischen Bürgerkrieg floh und den Geruch gebrannter Kastanien in Tübingen nicht nicht mehr so mag wie damals in Damaskus; Insa Jebens, die ihrem Dorf im Voralpenland nicht entkommt und gefangen bleibt in der übergriffigen Enge.
Der Westfale (Gilbert Mieroph) hat beim Maschinenbau-Studium das lebenspralle München kennengelernt und will da wieder hin. Er kommt aber nur bis Reutlingen und baut dann auf der Alb sein Häusle für die Familie. Ganz heimisch wird er nie. Er mag sich noch so viel Mühe geben. Zwei Generationen dauere das mindestens.
Tiefsinnig wird es, wenn Sarah Liebert mit Rolf Kindermann als personifizierter Heimat spricht und streitet wie mit einem Geliebten, den sie einst verließ. Tragisch wird es, wenn die Afrikanerin von der Flucht durch die Wüste Richtung libyscher Küste berichtet, die Afghanin von der Flucht mit dem Freund und der zwischenzeitlichen Zuflucht beim schwulen Freund im Iran, die Zwangsprostituierte von ihrer Hoffnungslosigkeit. Die passdeutsche Syrerin will doch zurück, ihr Land wieder aufbauen helfen, ist ihren Freunden und Helfern dankbar, aber bittet sie um Verständnis für den Heimkehrwunsch.
Es geht auch um den Thüringer „Heimatschutz“, aus dem der Terror des NSU erwuchs, und um die Neonazis der NPD, die sich in „Heimat!“ umtauften. Es geht um den gelernten DDR-Bürger, dessen Frust nach 23 Jahren Maloche in Wut und Gewalt umschlägt. Er brüllt sie heraus und zertrümmert mit dem Baseballschläger einen Gartenzwerg. Großer Auftritt für Gilbert Mieroph, der auch noch mit einem Hardrock-Gitarrensolo glänzt und als weiblicher Digitalnomade in Bali oder Australien vor der Neonschrift „home“ ihre Weltheimat preist.
Der Geschichten sind viele, erzählt und eingespielt, manchmal mit Video-Visualisierung verfremdet. Ein paar Belehrungen gibt es auch (etymologisch hat Heimat mit Haus zu tun, im Wegsein von dort wurzelt das Wort „Elend“). Aber nicht in belehrendem Ton. Das gilt auch für die historischen Exkurse von der Französischen Revolution und der Industrialisierung, die mit der Romantik und dem Biedermeier eine Gegenbewegung fanden, über die Nazizeit und deren Verdrängung mit Heimatfilmen und Vereinsmeierei in den Fünfzigern.
Das ist, obwohl es szenisch eigentlich nicht so viel hergibt, kurzweilig und tief, macht nachdenklich und hinterlässt einen als Zuschauer bereichert. Das Publikum in der ausverkauften LTT-Werkstatt sah das auch so und gab ausdauernden Applaus samt Schreien und Trampeln. Vorhänge en masse. Völlig verdient.
