Von Jörn Klare · Uraufführung
Schwäbisches Tagblatt, 8. Oktober 2025
(von Peter Ertle)
Unbedingt anschauen! „… worin noch niemand war“ sucht am LTT nach „Heimat“ und findet mehr als eine, jenseits von Kitsch, Provinzialität und Nationalismus.
Reutlinger General-Anzeiger, 6. Oktober 2025
Die Säge singt am Lindenbaum: Das Tübinger LTT fragt, was Heimat ist
(von Thomas Morawitzky)
Was ist Heimat? Ein Begriff geht um und keiner weiß, was soll er bedeuten. Das LTT versucht eine urkomische und gescheite Aufklärung mit Jörn Klares »...worin noch niemand war«. Mit dabei: ein prominenter Ehrengast.
Wo kommt einer, wo kommt eine her? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn zuletzt führt sie zurück in
den Mutterleib. Was also ist Heimat? Jörn Klare, der vor drei Jahren Tübingen das Stück »Vom Wert des Leberkäsweckles« auf den Leib schrieb, hat nun mit »… worin noch niemand war« einen Heimatabend verfasst als ein »genuin regionales Auftragswerk«. Am Samstagabend feierte es Premiere und entpuppte sich als treffend frecher Rundumschlag mit nachdenklicher Tendenz.
Zuerst treten sie in Nadelstreifenjacketts auf, dekoriert mit Abzeichen, Broschen, Ketten, metallenem Edelweis (Bühne und Kostüme: Doreen Back). Sie singen: »Es zieht ein Mondenschatten / als mein Gefährte mit …«. Der Wanderer verlässt das traute Heim, geht in die kalte Welt. Franz Schuberts »Winterreise« wird ein wiederkehrendes Motiv der Inszenierung – und die Ernsthaftigkeit, mit der Insa Jebens, Rolf Kindermann, Leo Kramer, Sarah Liebert und Gilbert Mieroph ihr erstes Lied anstimmen, mit geradezu surrealer Keyboardbegleitung (musikalische Leitung: Jan Paul Werge), kippt das schmerzliche Heimweh bereits ins herzlich Urkomische. Da sitzen sie, die fünf Darsteller, und sagen ihre Meinung: »Schwaben – ist scheiße!« – »Reutlingen – ist noch beschissener!« – »Tübingen – ist am allerbeschissensten!« – »Boah! Der Neckar!« – ein Würgen.
Die Schmähung wird als Test enttarnt, das Ensemble gesteht, dass es die Heimatgefühle der Zuschauer provozieren wollte. Diese erfahren, wo die Schauspieler herkommen – Baden-Württemberg ist es in keinem Fall. Ein Überraschungsgast kündigt sich an. Gelegentlich telefoniert er, um seine Verspätung zu entschuldigen. Auch Hölderlin klingelt irgendwann einmal und sagt sein Wort zur Heimat.
Viele Definitionen liefert das Stück. Heimat als verortete Erinnerung? Erste Worte, erste Liebe, Klassenzimmer. Dann: Stimmen von Bändern, Kassettenrekordern, die die Schauspieler umhertragen. Jörn Klare hat recherchiert, hat Aussagen von Menschen zur Heimat gesammelt. Immer mehr Biografien drängen herein, werden von den Schauspielern aufgenommen, fortgeführt.
Gilbert Mieroph wird zu einem »digital Nomad«, einem Menschen, dessen Heimat eine sichere Internet-Verbindung ist, der nirgendwo lebt, überall arbeitet, zum Beispiel in Bali. Hinter ihm, verdeckt durch einen Vorhang, kreischen und flattern die anderen Schauspieler als Möwen. Insa Jebens und Sarah Liebert sprechen von beengten Verhältnissen, von den Regeln im Dorf. »Eigenwillig war ein Schimpfwort!« Bei Jebens ist es offenkundig die deutsche Provinz mit ihren Nebenerwerbslandwirten – die Heimatszene, die Liebert in einem Monolog aufruft, spielt anderswo: »Menschen wie wir wurden von den Taliban jeden Freitag auf öffentlichen Plätzen aufgehängt.«
Rolf Kindermann leiht einer Erzählung über die Flucht aus Syrien seine Stimme – stockend, schwer. »Ich habe meine Heimat verlassen, aber meine Heimat hat mich nicht verlassen. Das können viele nicht verstehen.« Und: »Heimat ist nicht da, wo man geboren wurde, sondern dort, wo man begraben werden möchte.« Ein Abend, der leicht begann, sinkt plötzlich bleischwer ins Gemüt – und steigt wieder auf.
Kindermann spielt die singende Säge, wenn das Ensemble das Lied vom Lindenbaum anstimmt. Gitarre, Kontrabass, andere Instrumente kommen ins Spiel. Sascha Flocken führte Regie bei diesem materialreichen Abend, der in viele Richtungen zugleich strebt, persönliche Aussagen und historische Fakten verbindet, in zwei Stunden mit großer Verve über die Bühne fegt und das Klischee der Heimat, das so oft von Werbung und Politik missbrauchte Wort, immer wieder köstlich implodieren lässt. Zuletzt weiß jeder: Die Heimat ist viel älter als die Nation, der Nationalsozialismus war ein Betrug und Hitler der große Heimatzerstörer.
Was aber bleibt von der Heimat? Das Häuschen, das die Schauspieler sich auf der Bühne bauen wollen, das mit lautem Knall in sich zusammenstürzt? Der ausgerollte Kunstrasen, der zerdepperte Gartenzwerg? Der Ehrengast trifft ein, es ist Ernst Bloch, verstorben 1977 in Tübingen. Er verkündet, dass der Mensch ein utopisches Tier sein muss und die Heimat in der Zukunft liege. Leo Kramer spielt den Interviewer, Insa Jebens, Rolf Kindermann, Sarah Liebert und Gilbert Mieroph sitzen auf der hellbraunen Couch vor dem falschen grünen Tannenbaum und spielen vierfach den Bloch. Ihre Philosophengesichter, hinter runden Brillen, muss man gesehen haben.
cul-tu-re.de online, 5. Oktober 2025
(von Martin Bernklau)
In der LTT-Werkstatt hatte Jörn Klares „… worin noch niemand war – ein Heimatabend“ seine umjubelte Uraufführung