Von Jörn Klare · Uraufführung
Schwäbisches Tagblatt, 8. Oktober 2025
(von Peter Ertle)
Unbedingt anschauen! „… worin noch niemand war“ sucht am LTT nach „Heimat“ und findet mehr als eine, jenseits von Kitsch, Provinzialität und Nationalismus.
Reutlinger General-Anzeiger, 6. Oktober 2025
Die Säge singt am Lindenbaum: Das Tübinger LTT fragt, was Heimat ist
(von Thomas Morawitzky)
Was ist Heimat? Ein Begriff geht um und keiner weiß, was soll er bedeuten. Das LTT versucht eine urkomische und gescheite Aufklärung mit Jörn Klares »...worin noch niemand war«. Mit dabei: ein prominenter Ehrengast.
cul-tu-re.de online, 5. Oktober 2025
(von Martin Bernklau)
In der LTT-Werkstatt hatte Jörn Klares „… worin noch niemand war – ein Heimatabend“ seine umjubelte Uraufführung
In der Stadt, wo Ernst Bloch, der Pfeife rauchende Philosoph konkreter Utopie, eine Art letzter Heimat und seine letzte Ruhestätte fand, kommt ein Heimatabend natürlich nicht ohne dessen berühmte letzte Worte aus dem „Prinzip Hoffnung“ aus. Aber auch Friedrich Hölderlin, ein Heimatdichter ganz anderer Art, durfte nicht fehlen. Als Ehrengäste zur Uraufführung von Jörn Klares „…worin noch niemand war – ein Heimatabend“ in der ausverkauften LTT-Werkstatt am Samstag vertrösteten Denker und Dichter das Schauspieler-Quintett immer wieder telefonisch.
Am Anfang saßen sie in Orden behängten schwarzen Fantasieuniformen auf der Couch – und am Ende wieder: die Pfeife und das „Prinzip Hoffnung“ in der Hand, rezitierend, beschwörend. Sie nannten sich bei den Vornamen und gestalteten diese theatralische Collage als Sprachrohre ganz verschiedener Heimatsuchender, Heimatvertriebener und Fremder, von Flüchtlingen in neuen Heimaten, die das nicht werden, sondern nur Wohnort, bestenfalls zuhause bleiben. Sie schlüpften in deren Rollen, auch in allegorische, tobten ihre Wut aus oder zeigten ihre tiefe Trauer und machten Musik mit vielerlei Instrumenten und Gesang aus der „Winterreise“ Franz Schuberts.
Ein multimediales Bühnenereignis ist Regisseur Sascha Flocken da gelungen mit seinem Quintett aus Insa Jebens, Rolf Kindermann, den LTT-Neuzugängen Sarah Liebert und Leo Kramer – sein Vater Jan Josef Liefers und dessen Partnerin Anna Loos gaben der Premiere ihre Ehre – sowie einem herausragenden Gilbert Mieroph. Alle stellen sich mit ihrer Herkunft vor und mit dem Jahr ihrer Ankunft in Tübingen. Für die Bühne und die Kostüme, einfallsreich und variabel, war Doreen Back verantwortlich, für die Musik von den Winterreise-Variationen bis zum wilden, kreischenden Gitarren-Hardrock Jan Paul Werge.
Heimat ist Sehnsucht, ist Seelenort, sagt Hölderlin. Heimat ist, wo man begraben werden will, sagt Sarah als Aische aus Holzgerlingen, die den BWL-Master macht und genervt ist von den Fragen, wo sie denn eigentlich herkommt. Den Großvater, der so stolz war auf seinen Daimler, haben sie in der Türkei begraben. Heimat ist etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“, sagt der Philosoph, dessen Sprache so oft nach Dichtung klingt. Am Ende zitieren sie Ernst Bloch auf der Couch, die sie schon zu Beginn bevölkert haben, um den Begriff zu analysieren – und schauspielerisch mit einer Collage, einem Cocktail von Szenen, Figuren und Liedern zu füllen wie ein Gefäß: Heimat.
Alle sind sie Vertriebene. Alle suchen sie die Heimat mit der Seele. Alle haben sie Heimweh. Der alte Mann aus dem Off, der in der Jugend seine schlesische Heimat verlor, von Oranienburg im Osten nach Bielefeld rübermachte, Schneider lernte und dann ins Kloster ging, um sich sechzig Jahre lang auf seine künftige Heimat im Himmel vorzubereiten; die junge Frau (Sarah Liebert), die als Kind vorm syrischen Bürgerkrieg floh und den Geruch gebrannter Kastanien in Tübingen nicht nicht mehr so mag wie damals in Damaskus; Insa Jebens, die ihrem Dorf im Voralpenland nicht entkommt und gefangen bleibt in der übergriffigen Enge.
Der Westfale (Gilbert Mieroph) hat beim Maschinenbau-Studium das lebenspralle München kennengelernt und will da wieder hin. Er kommt aber nur bis Reutlingen und baut dann auf der Alb sein Häusle für die Familie. Ganz heimisch wird er nie. Er mag sich noch so viel Mühe geben. Zwei Generationen dauere das mindestens.
Tiefsinnig wird es, wenn Sarah Liebert mit Rolf Kindermann als personifizierter Heimat spricht und streitet wie mit einem Geliebten, den sie einst verließ. Tragisch wird es, wenn die Afrikanerin von der Flucht durch die Wüste Richtung libyscher Küste berichtet, die Afghanin von der Flucht mit dem Freund und der zwischenzeitlichen Zuflucht beim schwulen Freund im Iran, die Zwangsprostituierte von ihrer Hoffnungslosigkeit. Die passdeutsche Syrerin will doch zurück, ihr Land wieder aufbauen helfen, ist ihren Freunden und Helfern dankbar, aber bittet sie um Verständnis für den Heimkehrwunsch.
Es geht auch um den Thüringer „Heimatschutz“, aus dem der Terror des NSU erwuchs, und um die Neonazis der NPD, die sich in „Heimat!“ umtauften. Es geht um den gelernten DDR-Bürger, dessen Frust nach 23 Jahren Maloche in Wut und Gewalt umschlägt. Er brüllt sie heraus und zertrümmert mit dem Baseballschläger einen Gartenzwerg. Großer Auftritt für Gilbert Mieroph, der auch noch mit einem Hardrock-Gitarrensolo glänzt und als weiblicher Digitalnomade in Bali oder Australien vor der Neonschrift „home“ ihre Weltheimat preist.
Der Geschichten sind viele, erzählt und eingespielt, manchmal mit Video-Visualisierung verfremdet. Ein paar Belehrungen gibt es auch (etymologisch hat Heimat mit Haus zu tun, im Wegsein von dort wurzelt das Wort „Elend“). Aber nicht in belehrendem Ton. Das gilt auch für die historischen Exkurse von der Französischen Revolution und der Industrialisierung, die mit der Romantik und dem Biedermeier eine Gegenbewegung fanden, über die Nazizeit und deren Verdrängung mit Heimatfilmen und Vereinsmeierei in den Fünfzigern.
Das ist, obwohl es szenisch eigentlich nicht so viel hergibt, kurzweilig und tief, macht nachdenklich und hinterlässt einen als Zuschauer bereichert. Das Publikum in der ausverkauften LTT-Werkstatt sah das auch so und gab ausdauernden Applaus samt Schreien und Trampeln. Vorhänge en masse. Völlig verdient.