Miguel Abrantes Ostrowski, Andreas Guglielmetti · Foto: Martin Sigmund
Miguel Abrantes Ostrowski, Rolf Kindermann · Foto: Martin Sigmund
Rolf Kindermann, Miguel Abrantes Ostrowski, Andreas Guglielmetti· Foto: Martin Sigmund
Rolf Kindermann, Andreas Guglielmetti · Foto: Martin Sigmund
Rolf Kindermann, Andreas Guglielmetti, Miguel Abrantes Ostrowski · Foto: Martin Sigmund
Miguel Abrantes Ostrowski · Foto: Martin Sigmund
Rolf Kindermann, Miguel Abrantes Ostrowski, Andreas Guglielmetti · Foto: Martin Sigmund
Andreas Guglielmetti, Rolf Kindermann · Foto: Martin Sigmund
Rolf Kindermann, Miguel Abrantes Ostrowski, Andreas Guglielmetti· Foto: Martin Sigmund

„Kunst“

Komödie von Yasmina Reza · 14+


Kritik Reutlinger General-Anzeiger, 26. Juni 2023

Drei Männer und ein Bild

(von Heiko Rehmann)

Das LTT zeigt Yasmina Rezas Komödienklassiker »Kunst« im Freien auf der Hofbühne vor dem Theater.

Als Marcel Duchamp 1917 ein Urinal ins Museum stellte und zum Kunstwerk erklärte, reagierten die Mitglieder der »Society of Independent Artists« so verständnislos wie jener Hausmeister, der 1986 die berühmte Fettecke in Joseph Beuys’ Atelier entfernte. Seitdem die Kunst in die Moderne aufgebrochen ist, will die Diskussion über die Frage, was ein Kunstwerk sein kann, nicht aufhören. Darum geht es vordergründig auch in Yasmina Rezas 1994 in Paris uraufgeführtem Welterfolg »Kunst«, der am Samstagabend im Hof des LTT Premiere hatte.

Marc, Serge und Yvan sind beste Freunde, die seit 15 Jahren durch dick und dünn gehen. Bis sich Serge ein Bild kauft: Weiß mit weißen Streifen. Der erfolgreiche Dermatologe, beiger Leinenanzug, top gebügeltes Hemd, Dreitagebart, Habitus ein Mann von Welt, will seinen Kunstsinn demonstrieren, zur Society gehören.

»Wie teuer?«, fragt Marc, dunkelblaue Hose und Sakko, bodenständiger Ingenieur und erklärter Feind der Moderne. »200?000 Franc.« Ein verständnisloser Blick irrt über die Leinwand. »Serge – hast du für diese Scheiße wirklich 200?000 bezahlt?«, bricht es aus Marc heraus mit einer Wucht, die einen unterdrückten Vulkan spüren lässt. Miguel Abrantes Ostrowski verkörpert den von seinen Gefühlswallungen getriebenen Mann mit beeindruckender Authentizität. Jede Regung spiegelt sich in seiner Mimik, jede emotionale Veränderung in seiner Stimme.

»Du hast dich nie damit beschäftigt. Wie kannst du behaupten, dass ein Gegenstand, der Gesetzen gehorcht, die du nicht kennst, Scheiße sei?«, antwortet Serge mit unterdrückter Wut. Rolf Kindermann bringt die Attitüde des Weltmannes, der seine Gefühle kontrollieren will und doch nicht im Griff hat, in ihrer vielschichtigen Subtilität gekonnt auf die Bühne. Jede innere Regung spiegelt sich in seiner Haltung, jeder Überraschungsangriff des Freundes in einem verwunderten Stocken. Zurück in seiner Wohnung monologisiert Marc: »Dass Serge dieses Bild gekauft hat, löst Ängste in mir aus.« Und wir ahnen, dass es in dem Stück der französischen Erfolgsautorin um mehr geht als um moderne Kunst.

Eine Luke im Bühnenboden öffnet sich, und Yvan kommt herausgekrochen. Andreas Guglielmetti verkörpert den hilflosen Stadtneurotiker mit seiner unbeholfenen und liebenswerten Art so überzeugend, als wäre er selbst der arglose Tollpatsch, der nicht weiß, wie er im Leben zurechtkommen soll. »Mein ganzes Berufsleben ist ein einziger Fehlschlag«, jammert er mit weinerlicher Stimme und Marc kippt mit seinem Sitzsack nach hinten über. Auf das Bild angesprochen lacht sich Yvan erst halb tot, um dann zu sinnieren: »Na ja, wenn es ihm gefällt.« Und wir ahnen, dass jemand, der es allen recht machen will, am Ende zwischen allen Stühlen sitzen wird.

»Wenn ich ich bin, weil ich ich bin und wenn du du bist, weil du du bist, dann bin ich ich und du bist du. Wenn du nicht du bist, weil ich nicht ich bin, dann bin ich nicht ich und du nicht du«, zitiert Yvan seinen Therapeuten mit dessen herrlich tautologischer Gedankenfolge. »Was zahlst du?« – »200 Franc die Stunde.«

Über diese Parallele der Sinnlosigkeit zu dem Bilderkauf lachen Marc und Serge herzlich, ohne zu merken, dass es das Lachen wäre, mit dem sie sich aus ihrer destruktiven Verstrickung befreien könnten. Stattdessen dreht sich die Eskalationsspirale weiter und wir erfahren, dass es in Wirklichkeit nicht um das Bild, sondern um Machtverhältnisse innerhalb der Männerfreundschaft geht: »Als ich noch das Maß aller Dinge für dich war, hättest du das Bild nicht gekauft«, schleudert Marc Serge ins Gesicht. »Du hast dir eine andere Familie gewählt: die Dekonstruktion.« »Was ist das?«, fragt Yvan hilflos.

Thorsten Weckherlin lässt in seiner stringenten Inszenierung seinen drei Schauspielern viel Freiheit, ihre Rollen zu entwickeln. Mit wunderbar klarer Artikulation, einer starken Bühnenpräsenz und einer überzeugenden Verkörperung ihrer Charaktere machen sie an diesem Abend das Gefühlsleben der Figuren erlebbar und bieten Schauspielkunst auf höchstem Niveau.


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Schwäbisches Tagblatt, 26. Juni 2023

Alle drei auf einmal sein

(von Peter Ertle)

In Yasmina Rezas von der Zeit überholtem Stück „Kunst“ steckt rückblickend der noch in der Freundes-Privatflasche gedeckelte Geist heutiger Fundamentaldebatten – als nettes Anfangsfanal. Was zeitlos bleibt: ein krachender Boulevardklassiker.

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