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Stück für einen oder viele von Sibylle Berg
Schwäbisches Tagblatt, 3. März 2017
Angst macht Wut macht Demokratie kaputt
(von Volker Rekittke)
"Das wird man doch wohl noch sagen dürfen": Martin Bringmann und Gotthard Sinnflüsterten und schrien frustriert-empörte Botschaften ins Publikum - am Mittwoch am Tübinger Landestheater in Sibylle Bergs Pegida-Stück "Viel Gut Essen".
„Ich habe so eine Scheißwut. Ich habe Angst.“ Ein Mann wütet, weil er sich fürchtet. Vor dem totalen Absturz. Dem Wohnungsverlust nach dem Jobverlust und der Trennung von seiner Frau. Sich fürchtet vor den Rumänen im Viertel. Genervt ist vom Homo-Pärchen im Stock über ihm, das zu laut klassische Musik hört. "Ich belästige die Ausländer, die nicht ungestört in meinen Garten kacken können, ich belästige die Hartz-IV-Empfänger mit meinem geregelten Arbeitsalltag, ich belästige Frauen durch mein Glied." Am LTT spielt Martin Bringmann in Sibylle Bergs Stück "Viel Gut Essen" diesen "stupid white man", jenen weißen, normalen Mann, mit einer beeindruckenden, über 75Minuten zunehmend beklemmenden Intensität: "Ich bin nicht lebensmüde. Ich bin weltmüde."
Der lange Monolog des Scheiternden beginnt mit einer Phrase: "Ich habe ein gutes Leben." Doch was heißt das schon? "Ein krebsfreies Leben, ich habe alle Gliedmaßen, ich bin im besten Alter." Das ist wenig genug, wenn man erst sexuell frustriert und dann von der Frau verlassen wird, wenn der Kontakt zum Sohn abreißt, bereits die Mutter den Vater sitzen ließ und mit einem Flüchtling aus Eritrea durchbrannte. Hier überzeichnet die Autorin Berg - platt oder ironisch? Alles materielle und Psycho-Elend der Welt auf einmal: So knüppeldick jedenfalls dürfte es für kaum einen Pegida-Demonstranten oder AfD-Wähler je kommen.
Ziemlich nah dran an der Realität vieler Menschen sind jedoch jene Passagen, in denen es um Entfremdung geht. Ums Nicht-mehr-Mitkommen in einer Welt der schnellen Entscheidungen und Kapitalströme, in der "rechtschaffene Leute verarscht werden, von vorne bis hinten, von den demokratisch gewählten Volksvertretern, die unsere Wohnungen an Immobilienfonds verschachern". Auch die Wohnung des Manns ist längst verkauft, an eine Versicherungsanstalt - und die Mieten steigen unaufhörlich.
Wer weiß, ob die 1962 in Weimar geborene Sibylle Berg dabei an die Südwest-SPD dachte. Deren Wirtschaftsminister Nils Schmid hatte vor fünf Jahren den Verkauf von 21500 Landesbank-Wohnungen an Patrizia genehmigt. Das private Immobilienkonsortium gab die Wohnungen bald darauf an die Deutsche Annington weiter und strich eine halbe Milliarde Euro Gewinn ein. Bei der Wahl 2016 stürzte die SPD auf 12,7 Prozent ab - hinter die AfD. Ein Jahr später, so scheint's, haben die Genossen den Schuss endlich gehört, beklagt Kanzlerkandidat Martin Schulz, dass doppelverdienende Familien in Ballungsräumen nicht mehr die Miete bezahlen können. So wie in Tübingen, einer der teuersten Städte der Republik. "Viel Gut Essen" ist ein sehr aktuelles Stück.
"Der Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerls", soll der Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie August Bebel vor über hundert Jahren gesagt haben. Auch jener Mann am Rande des Zusammenbruchs, der in einer Küche voller Karos seine Mahlzeit zubereitet, ist zwar erbost über Politik und Kapital, richtet seine wachsende Wut aber vor allem gegen Frauen, Schwule und Ausländer. Wenn er über "die Banken" schimpft, darf der Hinweis auf "die Juden" nicht fehlen. Wie diese Wut von rechten Rattenfängern genutzt werden kann, das wussten schon die Nazis. Das wissen auch US-Präsident Donald Trump und AfD-Mann Björn Höcke.
Das Bühnenbild in der Nebenspielstätte "LTT-oben" besteht aus einer schlichten Ikea-Küche, das günstige Basismodell. Der Protagonist schnippelt darin und kocht, es dampft und brutzelt. Das Gemüse in der Pfanne schmort so wie die Wut in ihm. Auf der von Katharina Andes gestalteten Bühne sind Karomuster allgegenwärtig: am Boden, an den Wänden - und im Gesicht von LTT-Darsteller Gotthard Sinn. Der leiht dem "gesunden Menschenverstand" eines vermeintlich wachsenden Teils der Bevölkerung seine Stimme. Erst zynisch-kühl, dann immer aggressiver, ruft, schreit er seine Botschaften hinaus ins Publikum, ins Internet, in die Welt.
LTT-Intendant Thorsten Weckherlin hat bei "Viel Gut Essen" Regie geführt. Im TAGBLATT stellte er unlängst die Frage: "Wie schaffe ich es, dass nicht nur ‚die Guten‘ ins Theater kommen?" Also nicht nur das akademische, öko-linksliberale Tübingen. Sondern auch Menschen mit anderen Ansichten. Die in anderen sozialen und kulturellen Wirklichkeiten leben. Zum Beispiel in einem Wohnblock, der bis 2012 der Landesbank gehörte und heute einem Immobilienhai.
"The Times They Are A-Changin", erschallt die Phil-Collins-Version des Dylan-Klassikers. Der Mann sinniert: "Die Zeiten verändern sich." Die Zwiebel schneidet er nicht mehr, er zerfetzt sie regelrecht. Der Geruch hängt im Raum. "Haltet endlich alle die Fresse und lasst mich in Ruhe!" Auch der Karo-Mann legt nun los: "Lasst unsere Bahnhöfe in Ruhe, unsere Arbeitsplätze, unsere Rente, unser Recht auf ein ruhiges Leben, lasst uns in Ruhe", brüllt der Pegida-Chor.
Unterm Strich
Papa, wie kam Hitler an die Macht? Die Frage wird in Sibylle Bergs beklemmend intensivem und sehr aktuellem Pegida-Stück "Viel Gut Essen" nicht beantwortet - Geschichte wiederholt sich nicht einfach so. Wer aber Erklärungsansätze für den derzeitigen (Gemüts-)Zustand der Welt sucht, sollte ins LTT gehen.
Reutlinger Nachrichten, 3. März 2017
(von Jürgen Spieß)
Bleiben Respekt, Anstand und Moral in unserer Gesellschaft zunehmend auf der Strecke? Und führt die Angst vor Abstieg und Überfremdung zur Mobilmachung der Empörten und einer gefährlichen Aufweichung der Demokratie? Darum geht es in „Viel gut essen“ von Sibylle Berg. LTT-Intendant Thorsten Weckherlin hat das Stück als streitbaren Text und finstere Zeitdiagnose inszeniert.
Bumm, macht es jedes Mal, wenn Sibylle Berg ihre Figuren mitten im Leben kollabieren, abstürzen, explodieren lässt. In „Viel gut essen“ hat diese Figur keinen Namen, sie ist Politikverdrossener, Abgehängter, Verlassener und Wutbürger in einem. Ein Anti-Held, der wütend die Frauen und die ganze Welt schon gar nicht mehr versteht.
Dabei fängt alles ganz harmlos an: Dieser Mann im besten Alter (Martin Bringmann) steht am Herd und bereitet ein Menü für seine vernachlässigte Familie vor. Er schnippelt Gemüse, trinkt Rotwein, echauffiert sich über die klassische Musik hörenden Obermieter und macht sich Gedanken über Gutmenschen, Social-Media-Selbstinszenierer und über das Haus Europa, „ein Haufen Länder, die nichts gemein haben“.
Dies alles trägt der offensichtlich gebildete und nicht unsympathische Mann mit ruhiger Stimme und gewählter Ausdrucksweise vor. Ja, man kann einige Argumente, die er über Globalisierung, Politik(er)verdruss oder zunehmende Gewalt sagt, guten Gewissens unterschreiben. Doch bald verwandelt sich Unzufriedenheit in Wut. Der Ton wird ruppiger, frustrierter, radikaler: „Alles wird zugebaut und manipuliert, und du musst rennen, rennen, um den Anschluss nicht zu verlieren“.
Langsam wird klar: Hier klagt jemand, der mit dem Rücken zur Wand steht und bereits alles verloren hat – Familie, Job, Ansehen, Glaube an die Zukunft. Und dann will der Sohn auch noch Ballett-Tänzer werden. Das alles ist zuviel, Herr Jedermann muss diese angehäuften Portionen von Wut, Frustration und Hass herauslassen, gegen Migranten, Frauen, Homosexuelle, Muslime, Banken und andere Feindbilder.
Seine Suche nach Schuldigen wird noch angeheizt von einer mephistophelischen Figur (Gotthard Sinn), einem demagogischen „Chor des gesunden Menschenverstands“, der den Monolog des Mannes von Zeit zu Zeit mit hetzerischen Hass-Parolen von der Straße kommentiert: „Diese armen Asylanten, aber sie tanzen ja so anmutig“, krakeelt er mit zynischem Unterton. Oder er stichelt und ruft zum Aufstand der „Aufrechten“ auf: „Wir sind Bürger mit Bürgerrechten. Und die holen wir uns. Jetzt.“
Einen unsichtbaren Kokon hat dagegen dieses abgehängte Alphamännchen um sich gewoben, um seiner Angst vor einem weiteren Abstieg zu entkommen. Er wird gezeichnet als ein Abbild einer Generation, die es gelernt hat, sich im Wunderland des Selbstreferenziellen einzurichten, die aber im Endeffekt daran zerbricht: „Ich hab‘ mir den Arsch aufgerissen für meine Frau und dieses Land“, brüllt er verzweifelt, „und dann wirst du abgelegt wie eine faulige Tomate“.
Dieser selbstmitleidige Narziss lebt von billigen Schuldzuweisungen und altbekannten Klischees, und da ist es nur konsequent, dass die Inszenierung anfangs abläuft wie Easy Listening, weit entfernt und doch irgendwie nah – bis sich die Bilder verdichten und am Ende aus dem angepassten Gutmensch ein um sich schlagender Wutbürger wird. Diese Wandlung spielt Martin Bringmann mit großer Leidenschaft. Katharina Anders, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, hat die Zuschauer zudem auf zwei gegenüberliegende Tribünen platziert, was dem Blick auf dieses Häufchen Elend zusätzliche Reibung und Sprengkraft verleiht.
„Viel gut essen“ unter der Regie von Thorsten Weckherlin (Dramaturgie: Lars Helmer) setzt auf Distanz, Sinnleere und Hoffnungslosigkeit. Doch die Aufführung bietet nicht nur selbstgerechtes Schaudern. Die Beiläufigkeit, mit der Sibylle Berg diesem Herr Jedermann seinen postmodernen Hintern aufreißt, verleiht dem 70-minütigen Stück seinen Reiz. Anstand und Moral? Die bleiben dabei auf der Strecke. Was bleibt? „Ich habe eine Scheißwut“, brüllt Bringmann am Ende, „ich habe Angst!“
Reutlinger General-Anzeiger, 3. März 2017
Wutbürger und die Brandstifter
(von Christoph B. Ströhle)
Sibylle Bergs Stück „Viel gut essen“ in der Inszenierung von Intendant Thorsten Weckherlin am LTT
Ein Mann kocht. Nicht nur vor Wut, aber auch. Zunächst einmal aber schnippelt er in Sibylle Bergs Stück »Viel gut essen« in seiner nagelneuen Einbauküche, die noch nicht abbezahlt ist, Gemüse, um seiner Frau und seinem Sohn ein Festmahl zu bereiten. Seiner Frau, die schon vor Monaten ausgezogen ist, und seinem Sohn, der ihm, seit er auf der Welt ist, wesensfremd geblieben ist.
Martin Bringmann spielt diesen namenlosen Protagonisten, dem Regisseur und LTT-Intendant Thorsten Weckherlin einen »Chor des gesunden Menschenverstandes« an die Seite stellt. Am Mittwoch war im LTT Premiere.