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Schauspiel nach der Erzählung von Joseph Conrad Übersetzung von Manfred Allié
Esslinger Zeitung, 19. Mai 2017
(von Elisabeth Maier)
Kolonialgeschichte aus ungewohnter Perspektive: Carina Riedl inszeniert „Herz der Finsternis“ am Landestheater Tübingen
Eine offene Wunde ist die belgische Kolonialgeschichte im Kongo bis heute. Der Brite Joseph Conrad hat das Thema 1899 in seiner Novelle „Herz der Finsternis“ untersucht. (...) Regisseurin Carina Riedl hat das sprachstarke Werk am Landestheater Tübingen als Alptraum einer Unterwerfung in Szene gesetzt. Dabei setzt sie auf Bilderwelten, die wenig mit der Düsternis der schwarzen Kontinents zu tun haben. Mit den Schauspielern erschafft sie ein ganz eigenes Universum, das schreckliche Seelenwelten spiegelt.
(...)
Wie kolonialistisches Denken bis heute den Alltag der Menschen in Europa bestimmt, interessiert Regisseurin Riedl in der dichten, surreal strukturierten Arbeit. Deshalb hat sie in der stark gekürzten Textfassung die Figurenkonstellation des britischen Dichters aufgebrochen. Conrads antiquierte Figuren sind auf Typen reduziert, die durch Fieberträume geistern. Conrads eurozentrische Gedanken über Kolonialismus stellt die Regie auf den Prüfstand. Fatima Sonntags Bühne ist ein abgewrackter roter Salon, der den elitären Geist von Kolonialgesellschaften atmet. Totemfiguren hängen in einer Vitrine. Mit solchen Trophäen schmückt sich die westliche Macht. Schmutz und nackte Gewalt, die Conrads Sprachbilder eigentlich prägen, klammert das Regieteam ganz aus. In dieser ungewöhnlichen Kulisse agieren die Schauspieler wie Figuren aus einer Traumwelt. Heiner Kocks weißer Mann balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Rassenhass und Angst vor dem Fremden. Herrschaftsdenken treibt Daniel Tille als Ziegelbrenner um. Laura Sauer als Narr jongliert mit dem Text, der vor brutalen Bildern strotzt, so leicht, als handelte es sich um einen Groschenroman. Michael Ruchter als Norne strickt am Faden des Schicksals. Als „die Frau“ spielt Thomas Zerck mit Geschlechterrollen. Denn Unterdrückung und Gewalt sind in Riedls kluger Regie nicht auf die Kolonialzeit beschränkt. Klug schafft sie Bezüge, die nachvollziehbar sind.
Starke Emotionen machen den Reiz der bemerkenswerten Regiearbeit aus. Carina Riedl holt Joseph Conrads literarische Studie des brutalen belgischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert ganz nah in die Gegenwart. Auch wenn heute eher mit wertvollen Rohstoffen als mit Elfenbein gehandelt wird, liegt die Aktualität des Stoffs auf der Hand. Das Schauspielensemble überzeugt nicht nur durch einen sensiblen, poetischen Zugriff auf Conrads Text, zeitgemäß ins Deutsche übersetzt von Manfred Allié. Distanziert betrachten die Spieler die dunkle Novelle aus der Wildnis, entlarven Mechanismen des Herrenmenschendenkens aus ungewohntem Blickwinkel. Das regt im besten Sinn zum Nachdenken an.
Reutlinger Nachrichten, 12. Mai 2017
(von Kathrin Kipp)
Das Landestheater Tübingen hat Joseph Conrads Kolonial-Novelle "Herz der Finsternis" auf die Bühne gebracht. Eine Reise ins Unterbewusste.
Carina Riedl bringt die Kolonial-Novelle „Herz der Finsternis“ von 1899 als gruseligen Seelentrip auf die Bühne. Ein Fest nur für hartgesottene Erzähltheaterfans. Selten kommt man so verwundet aus dem Theater, aber der sperrige, wüste Text tut einfach weh. „Herz der Finsternis“ (1977 verfilmt von Francis Ford Coppola als „Apokalypse Now“) ist ein Festival des Morbiden.
Joseph Conrad schildert auf schwülstige, symbolistische, atmosphärische Weise, wie Captain Marlow mit einem Dampfer auf dem Kongo-Fluss zur sogenannten „Inneren Station“ schippert. Dort soll er den exzentrischen und durchgeknallten Elfenbein-Agenten Kurtz abholen, der sich als örtlicher Kolonialfürst ein Reich voller Gewalt und Ausbeutung geschaffen hat, ein ausschweifendes Leben führt und sich von den Wilden als Gott verehren lässt. Was ihm letztendlich nicht allzu gut bekommt: Kurtz ist kurz vorm Dahinsiechen, und auf der Überfahrt stirbt er dann auch.
Mit der Beschreibung der Expedition ins Ungewisse wurde offenbar zum ersten Mal literarisch auf die Gräueltaten der Kolonialisten hingewiesen, sie strotzt aber selbst vor lauter eurozentristischer Herrenmenschdenke. Andererseits fungiert die Reise über den afrikanischen Lethe als Folie für die Reise in das dämonische Innerste der menschlichen Spezies, wo sich ein teuflischer Abgrund auftut.
Wenn sich die Gelegenheit ergibt, entwickelt sich der zivilisierten Mensch zu einer grausamen Bestie. Und so herrscht auf dem Weg ins Herz der Finsternis eine geheimnisvolle, unwirkliche, feuchtschwüle, morbide und teuflisch-gefährliche Atmosphäre, die Conrad mit dem Gebrauch zahlreicher komplizierter sprachlicher Gebilde und noch mehr Adjektiven zum Ausdruck bringt.
Mit von der schaurigen Partie sind mysteriöse weiße „Pilger“, die wild um sich schießen. Bei den Eingeborenen wiederum löst das Geisterschiff solche (begründete) Angst aus, dass sie heulen und zähneklappern, ebenfalls schießen oder einfach nur starren. Marlow begegnet einem ganzen Sammelsurium voller Fratzen und ausgemergelter Körper, alles ist modrig, verfault, dekadent, schwül und verdorben, der Untergang kann nicht weit sein.
Vielleicht sind Marlow und Kurtz auch nur zwei Seiten ein- und derselben Persönlichkeit. Dem Text kann man jedenfalls kaum folgen: ein Wirrwarr und Wust aus Figuren und Atmosphären, Bildern, Symbolen, Metaphern, kurz: die vieldeutige Reise ins Unbewusste, Grausame Ich ist anstrengend und verwirrend.
Wie auch immer: Carina Riedl belässt den gekürzten Erzähltext in seinem kolonialen Setting, pflanzt ihn in einen herrschaftlichen, rotgewandeten Salon, mit Blick auf sämtliche Afrika-Klischees, die in Glasvitrinen ausgestellt sind (Bühne: Fatima Sonntag): jede Menge Busch, Holzmasken, schwarze Skulpturen, Terrarien mit vermutlich wilden Tieren und ein leerer Glaskasten für die übrigen Phantasien.
Von der Decke tropft Wasser. Eine weißgekleidete Frau (Thomas Zerck) spielt die Trommel, sie ist eine der fünf unbenamsten Nebenfiguren der 100-minütigen Höllenfahrt (...).
Michael Ruchter tapst als schwarze Witwe, als „Norne“, eine nordische Mythenfigur, über die Bühne, Heiner Kock steht als selbstherrlicher, zynischer und jähzorniger „Weißer Mann“ und Buchhalter gerne mal auf seinem Schreibtisch. Daniel Tille als „Ziegelbrenner“ sieht in seinem Lederfrack an sich schon etwas brutal aus, und Laura Sauer klettert als „Narr“ durch die Szenerie oder versteckt sich im Glaskasten. Elemente der „Geschichte“ finden sich als Requisiten wieder.
Carina Riedl konterkariert die stark bebilderte und kreativ choreografierte Reise ins Unterbewusste, die sich ein wenig ausnimmt wie ein Wimmel-Bild von Hieronymus Bosch, an dessen Drogenvorrat sich vermutlich auch Joseph Conrad bedient hat, um so etwas zu schreiben, mit Szenen von den Berliner Afrika-Konferenzen der 1880-er, auf denen sich die Weltherren Afrika untereinander aufteilen. Und die sich zu royaler Musik wie die Geier auf die Beute stürzen: ein Guglhupf, der zu kleinsten Krümel zerrupft wird – eine Riesensauerei.
Auf diesen Konferenzen wurde der Grundstock gelegt unter anderem für die Ausbeutung und den Mord an 10 Millionen Einwohnern im Kongo durch den belgischen König Leo II. Unter dem Deckmäntelchen von Bildungsoffensive, Entwicklungshilfe und wirtschaftlichem Fortschritt. Ähnlichkeiten zu heutigen Verhältnissen sind natürlich rein zufällig. Am Ende stürzen die Wände ein – was immer das bedeuten mag.
Schwäbisches Tagblatt, 2. Mai 2017
(von Wilhelm Triebold)
Das Landestheater bewältigt mit der Bühnenfassung von Joseph Conrads Erzählung "Im Herz der Finsternis" die koloniale Vergangenheit ...
Joseph Conrads Jahrhundertroman "Im Herz der Finsternis" wurde, wie so vieles andere auch, längst für die Bühne adaptiert. Die Tübinger Version siedelt den Horrortrip in die koloniale Herzkammer Zentralafrikas mit Fatima Sonntags Bühnenbild in einer barock tapezierten Salonbruchbude westlicher Machart an, versehen mit verwaisten Terrarienkästen und Trophäen kolonialer Raffgier.
(...) Fünf Repräsentanten, anfangs mit Justizias Augenbinde versehen, machen sich krümelnd über einen Topfkuchen her. Geschichtsstunde per Holzhammer. Zuvor lauscht einer der Herrschaften dem Pfeifen im Regenwalde, ein weiterer strickt als schwarz gewandete Norne am Schicksal. Doch leider nicht am roten Faden, der zielführend durch eines langen Abends Reise in die Nacht der menschlichen Natur leitet. Dass während der pausenlosen eindreiviertel Stunden dann auch die Potemkin-Kulisse dieses marode gewordenen Europa in sich zusammenbricht, ist nur folgerichtig.
Die fünf Protagonisten (Michael Ruchter als "Norne", Heiner Kock als "Weißer Mann", Daniel Tille als "Ziegelbrenner", Laura Sauer als "Narr" und Thomas Zweck als "Frau") teilen sich den umfangreichen Text gerecht untereinander auf und verwandeln sich dabei allmählich in Wiedergänger des grausam-glatzköpfigen Tropen-Tyrannen Mr. Kurtz, dem erklärten Ziel dieser Expedition.
(...)
Reutlinger Generalanzeiger, 2. Mai 2017
(von Armin Knauer)
Das LTT bringt die berühmte Joseph-Conrad-Erzählung »Herz der Finsternis« auf die Bühne
Den Artikel lesen Sie hier GEA - Herz der Finsternis
Schwäbisches Tagblatt, 28. April 2017
(von Kerstin Grübmeyer (LTT-Vorbericht))
Joseph Conrads Roman "Herz der Finsternis" ist einer der berühmtesten Texte über die belgische Kolonialzeit im Kongo und prägt den europäischen Blick auf einen ganzen Kontinent bis heute. Carina Riedl hat den Stoff, wie schon andere vor ihr, fürs Theater adaptiert. LTT-Dramaturgin Kerstin Grübmeyer sprach mit ihr.
Kerstin Grübmeyer: Die berühmteste Adaption des Romans ist sicherlich Coppolas Film "Apocalypse Now", der die Handlung in den Vietnamkrieg verlegt. Wie kann Theater mit so einem Werk konkurrieren?
Carina Riedl: Klar haben wir uns in der Vorbereitung den Film wieder angesehen. Ich war einmal mehr begeistert von seiner atmosphärischen Dichte und der Schärfe, mit der Coppola den Wahnwitz des Vietnamkriegs im Politischen wie im Persönlichen sichtbar macht und kritisiert.
Die Überwältigung durch die Filmbilder macht es allerdings schwer, auf Abstand zu gehen. Theater kann dagegen etwas anderes setzen: Die reflektierende Distanz, die bei dem Stoff notwendig ist, die man braucht, um Dinge in der Folge ändern zu können.
In "Apokalypse Now" wird eine Geschichte von Gewalt, Chaos, Zerrüttung und Wahnsinn erzählt. Warum ist die Adaption des Textes für die Bühne interessant?
Ich bin mittlerweile überzeugt davon, dass wir Conrads Erzählung nutzen können, um zwei große Themen unserer Gegenwart zu verstehen: Das der Fluchtbewegungen - zugespitzt könnte man sagen, "sie sind hier, weil wir dort waren." Und das der Autokraten und "neuen" Populisten, der Trumps, Erdogans, Orbáns und wie sie alle heißen.
In der Figur des Kurtz zeigt uns Conrad, wie ihr Erfolgsmodell funktioniert. "In seinem tiefsten Inneren war er hohl", heißt es in "Herz der Finsternis" über Kurtz, der als ein Agent einer belgischen Handelsfirma mitten im Urwald eine Art kleines Imperium errichtet hat, in dem er gottähnlich herrscht.
Wie kommt "Afrika", der Kontinent, der mit Conrads Text den Stempel der "Finsternis" verpasst bekam, in Deiner Inszenierung vor?
Für mich ist Conrads Thema nicht Afrika, sondern Europa. Und das "Herz der Finsternis" nicht ein wie auch immer geartetes Dunkel im Inneren eines fremden, unbekannten Kontinents, viel mehr befindet es sich tief im eigenen Inneren. Europa, das auszog, dem Rest der Welt das Licht der Aufklärung zu bringen, hat allein in den 20 Jahren belgischer Kolonialherrschaft im Kongo 10 Millionen Menschen ermordet. Dennoch ist unser Bewusstsein dafür nach wie vor gleich null. Conrads Thema ist die Verlogenheit eines Europa, das das "Andere" der Aufklärung geflissentlich unter den Tisch gekehrt hat. Deshalb erzählen wir Conrads Geschichte aus einem ur-europäischen Bühnenraum heraus, einem barocken Selbstbespiegelungsraum, einem Salon.
Was ist die Grundidee für die Fassung, was die Spielsituation?
Schon bei der ersten Lektüre hat mich eine Reihe sehr markanter Figuren interessiert, die man klassischerweise als Nebenfiguren bezeichnen würde. Irgendwann habe ich begonnen, mit dem Gedanken zu spielen, Marlows Geschichte aus ihrer Perspektive zu erzählen. Letztendlich sind es fünf Figuren geworden, die wie Torwächter in fünf Höllenkreisen über die Stationen auf Marlows Reise wachen und ins Herz der Finsternis geleiten: eine rätselhafte Norne, ein weißgekleideter Buchhalter, ein durchtriebener Intrigant, ein flickenübersäter Narr und eine junge Frau. Allesamt sind sie symbolhaft aufgeladen, Archetypen, Repräsentanten eines Europa, das in einem Akt verlogener und hybrider Selbstüberschätzung eine Verheerung über die Welt gebracht hat, deren Folgen noch lange nicht ausgestanden sind.
Vor einem halben Jahr haben Sie selbst den Kongo bereist, den Ort des Geschehens von Conrads Erzählung. Wie hat das die Sicht auf den Text verändert?
Der Plan für diese Reise kam aus dem Wunsch, einen Perspektivwechsel zu vollziehen. Für mich war es frappierend, wie allgegenwärtig die Folgen des europäischen Projekts Kolonisierung in Kinshasa an jeder Straßenecke sind.
Wir Europäer haben mit dem Unabhängig-Werden der ehemaligen Besitztümer die Unternehmung für beendet erklärt, aber sie wirkte nach und tut es noch. Die kolonialen Strukturen haben alte funktionierende Lebens- und Herrschaftsformen überschrieben und für immer zerstört, und das Fehlen eines organisch gewachsenen Gesellschaftssystems ist an allen Ecken und Enden spürbar.
Gleichzeitig begegnet man jungen Leuten, die das erste Mal seit Jahrzehnten - wenn auch fragilen - Frieden erleben, ein bisschen zum Durchatmen kommen, mit einiger Zuversicht in die Zukunft schauen.