Eine Komödie von deutscher Seele von Thomas Bernhard · 16+
Schwäbisches Tagblatt, 17. April 2025
Nazis in Staubschleiern, bizarre Rituale
(von Dorothee Hermann)
Das Landestheater Tübingen verhebt sich an einem Remake von Thomas Bernhards Dreipersonenstück „Vor dem Ruhestand".
Schon für zwei ist es im Haus des Gerichtspräsidenten und Alt-Nazis beklemmend eng. Wie es eben ist, wenn zwischen Menschen Hass, Wut und Ohnmacht dominieren. Kaum auszudenken, wie es sein wird, wenn auch noch der vormalige SS-Offizier Tag für Tag mit im Wohnzimmer sitzt, in dem seine beiden Schwestern Clara (Susanne Weckerle) und Vera (Katja Uffelmann) sich darauf vorbereiten, dass er an diesem Abend von seinem letzten Arbeitstag nach Hause kommt. Der 7. Oktober ist für den Juristen schon lange ein besonderes Datum, weil es Himmlers Geburtstag ist. Zur Erläuterung für Nachgeborene: Heinrich Himmler, sogenannter Reichsführer der SS, war einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust.
So sieht es aus, das Setting von Thomas Bernhards Dreipersonenstück „Vor dem Ruhestand“, von ihm als „Komödie deutscher Seele“ untertitelt. Intendant Thorsten Weckherlin hat es nun am Landestheater Tübingen (LTT) neu herausgebracht.
Wie aus feinen Staubschleiern aufsteigend, materialisiert sich ein bürgerliches Wohnzimmer der 1940er-Jahre, gar nicht nazimäßig monumental, sondern eher schlicht, nur vielleicht mit etwas viel kackbraunem Holz. Dann verfliegen die Staubschleier, das Bild wird gewissermaßen scharf gestellt, und die Zuschauer finden sich stufenlos auf gleicher Ebene mit den Figuren und deren gruseligen Festvorbereitungen.
Für Gerichtspräsident Rudolf Höller (Andreas Guglielmetti) ist Himmlers Geburtstag der einzige Tag im Jahr, an dem er, geschützt vor den Augen der Öffentlichkeit, wenigstens zuhause endlich wieder seine schwarze SS-Uniform tragen darf, und auch die Schwestern beteiligen sich an dem bizarren Ritual: Vera aus Überzeugung, die querschnittsgelähmte Clara durch Zwang.
Die Rollstuhlfahrerin scheint aus einem Abgrund von Traurigkeit und unendlicher Müdigkeit auf das Geschehen zu blicken. „Ich bewundere dich, ich bewundere dich wirklich, aber ich verachte dich auch“, sagt sie der Schwester, die ihr zuvor wieder einmal klargemacht hatte, dass sie in der Zeit, aus der beide kommen, „schon längst weggebracht worden“ wäre.
Bereits der erste Akt weist eine psychologische Dichte auf, die manchem Zeitgenossen und mancher Zeitgenossin für eine abendfüllende Inszenierung ausreichen würde. Doch das LTT-Remake des Bernhard-Stücks aus dem Jahr 1979 fällt zu kostümlastig und zu museal aus (Bühne & Kostüme: Vinzenz Hegemann). Man schaut den Figuren zu, wie sie einander in ihrer Zeitkapsel bekriegen und sich gemeinsam gegen die Außenwelt abschotten, um schließlich einfach wieder abzuheben aus den Verwerfungen der Gegenwart.
Mit ihren vibrierenden Ambivalenzen wirken die beiden Frauen stärker als der erst im zweiten Akt auftauchende gealterte Nazi, auf den ihre ganze Existenz ausgerichtet ist. Er ist ein etwas matter Anzugträger mit Brille und schütterem Haar, eine Figur zwischen Popanz und Baby, um das sich gekümmert werden muss. Untergründig scheinen die Schwestern viel stärker dagegen aufzubegehren, ständig in einer geschlossenen Parallelwelt gefangen zu sein. Einen Tübinger Bürger-Chor als kritische Instanz gegenüber der autoritär-patriarchalen Familienhölle in Stellung zu bringen, wirkt ein bisschen schlicht. Und das Datum 7. Oktober wird mantra-artig so häufig wiederholt, dass außer dem Himmler-Geburtstag auch der Terrorangriff der Hamas an ebenjenem Tag mitgemeint sein dürfte.
Andererseits würde Veras eiserne Gute-Laune-Power, die die beklemmende Geschwisterkonstellation tatsächlich trägt, sie als eine der Figuren qualifizieren, die in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts den Laden am Laufen halten und dabei angeblich weniger produktive Menschen mindestens unterschwellig ständig abwerten. Doch solche Unterströmungen vernachlässigt die Inszenierung, weil sie zu sehr darauf aus ist, als Nazi-Farce mit bewährten Wiedererkennungseffekten zu funktionieren.
Reutlinger General-Anzeiger, 14. April 2025
Abgründe hinter schwarzem Humor
(von Jörg Riedlbauer)
Eine Theaterproduktion, wie sie in einer Zeit, in der erschreckend autoritäre Staatenlenker von Mehrheiten bewundert und Rechtsaußen-Positionen wieder gesellschaftsfähig geworden sind, nicht besser passen könnte.
cul-tu-re.de, 13. April 2025
„Vor dem Ruhestand“ – Himmlers Geburtstag
(von Martin Bernklau)
In der LTT-Werkstatt inszeniert Thorsten Weckherlin Thomas Bernhards bedrückend grandiose Farce über alte Nazis und die „deutsche Seele“
Nachtkritik.de, 13. April 2025
Davon geht die Welt nicht unter
(von Verena Großkreutz)
Die drei Geschwister aus Thomas Bernhards "Vor dem Ruhestand" feiern ihn immer noch: Himmlers Geburtstag. Thorsten Weckherlin hat das familiäre Gesinnungsstück in Tübingen inszeniert, mit einem Bürger:innen-Chor. Aber so einfach lassen sich damit keine Bezüge zu heute knüpfen.