Eine Erkundung zu Demenz und Gesellschaft am Fall Walter J. von Jörn Klare
Uraufführung
Schwarzwälder Bote, 12. Dezember 2022
Demenz: Wenn der Dreißigjährige Krieg im Gehirn wütet
(von Christoph Holbein)
Uraufführung - Eindrücklich und eindringlich: »Vom Wert des Leberkäsweckles« überzeugt
Südwest-Presse, 9. Dezember 2022
(von Wilhelm Triebold)
Ebenso nachdenklicher wie unterhaltsamer Annäherungsversuch an das, was Identität ausmachen soll.
Schwäbisches Tagblatt, 6. Dezember 2022
(von Justine Konradt)
Szenen, die zu Herzen gehen und überzeugen
Stellen Sie sich vor, Sie hätten vergessen, mit wem Sie Ihren ersten Zungenkuss hatten; wie Sie hergekommen sind; wie Sie hier wieder rauskommen! Stellen Sie sich vor, Sie hätten vergessen, wer Sie sind!“ Die LTT-Schauspieler Justin Hibbeler, Hannah Jaitner, Insa Jebens und Lucas Riedle stehen in einer Reihe vor dem Publikum. Jetzt wenden sie sich ab, betreten das Bühnenbild: das Rund eines Amphitheaters. Sie beginnen, weiße Decken von Möbeln zu ziehen. Zum Vorschein kommen: ein volles Bücherregal, ein alter Fernseher, ein Sessel. Interessiert stellen die vier den überdimensional großen Kopf einer antiken Statue auf, er wird geöffnet: lautes Rauschen und geschredderte Papierfetzen. Justin Hibbeler schaut seine Kollegen an – die staubigen, weißen Tücher werden hineingeworfen. Jetzt ist er wieder zu, der Kopf.
Dass es in diesem Stück um Walter Jens geht, ist kein Geheimnis. Autor Jörn Klare versucht nicht subtil, Jens’ Geschichte in das Thema Demenz hineinzuweben – nein, der Philologe und Rhetoriker ist an diesem Abend allgegenwärtig. Genau wie seine Frau Inge. Schon durch das Bühnenbild und die Requisiten kann man Kontakt zu dem intellektuellen Paar aufnehmen: die Referenzen auf die Antike, die vielen Bücher, Rodins „Der Denker“ in Miniaturformat. Aber auch persönlich sind sie vor Ort, zumindest fühlt es sich oft so an. Immer wieder werden Interviewsequenzen der beiden abgespielt. Und wenn sie nicht zu hören sind, dann werden sie beeindruckend von Insa Jebens und Justin Hibbeler verkörpert. Ansonsten sind da noch die Erinnerungen von Walter Jens (gespielt von Hannah Jaitner, Lucas Riedle und Insa Jebens). Sie helfen ihm immer wieder auf die Sprünge, tragen ihm seine Biografie vor. Auch biologisches Wissen haben sie zum Thema Gehirn und allem, was so dazu gehört. Damit belehren sie in regelmäßigen Abständen das Publikum: „Ein Fötus im Mutterleib bildet pro Minute bis zu 250 000 neue Nervenzellen.“ Gerade noch haben die Erinnerungen rote Fäden, Nervenzellen, quer durch das Bühnenbild gespannt, jetzt erklären sie das Prinzip von Lang- und Kurzzeitgedächtnis. Was unwichtig ist, landet im Kurzzeitgedächtnis und wird buchstäblich geschreddert, was wichtig ist, wird liebevoll auf die Nervenzellen des Langzeitgedächtnisses gehängt. Wichtig: das Lächeln des Einlasspersonals, unwichtig: der Geruch des WC-Reinigers auf der Toilette.
Die Erinnerungen können aber auch ganz schön konfrontativ sein, stellt man fest. So kann sich Walter Jens nicht daran erinnern, in der NSDAP gewesen zu sein, er streitet es gar ab – Hitlerjugend ja, Mitglied der NSDAP auf gar keinen Fall. Tatsächlich war er aber mal Teil der NSDAP. Und schon stellen sich ganz grundsätzliche metaphysische Fragen: Verlieren wir mit unseren Erinnerungen wirklich unsere Identität? Blenden wir nicht auch viele Erinnerungen bewusst aus? Und sind dann die präsenten Erinnerungen nicht eine Art der Selbstinszenierung und geben somit kein authentisches Bild von uns ab?
Es sind Fragen, die das Stück nur streifen kann – ganz klar! Sie werden allerdings auch im Verlauf des Abends überrollt von weiteren Themenblöcken. Einmal verkörpert Lucas Riedle Autor Jörn Klare und erzählt dessen Geschichte von der Demenz seiner Mutter. Dann wieder ist es die hitzige Debatte um Sterbehilfe und die Rolle von Inge Jens, die im Mittelpunkt steht. Hier steigen die Schauspieler und Schauspielerinnen aus ihren Rollen und spiegeln in einem konfliktgeladenen Gespräch die Stimmen der Bevölkerung zum Thema „Verrat an Walter Jens“. In Kombination mit Musik- und Gesangseinlagen ist der Zuschauer doch manches Mal ein wenig reizüberflutet. Die großen Themen Sterbehilfe und Demenz, dazu das Schicksal von Walter Jens – all dies machte den Abend zu einem ziemlich strammen. Dabei sind es gerade die minimalistischen, ruhigen und inhaltlich reduzierten Szenen, die zu Herzen gehen und überzeugen. So wie das zarte Duett von Jebens und Hibbeler, als sie einen Dialog zwischen Inge und Walter Jens spielen, in dem Inge Jens versucht, ihren schon schwer dementen Mann ganz zärtlich davon zu überzeugen, dass sie seine Frau ist. Es gibt den kurzen Moment der Wiedererinnerung seinerseits, er hält ihre Hand – in der nächsten Sekunde die Frage:
Zum Schluss bleibt das Leberkäsweckle, das Walter Jens am Ende seines Lebens solche Freude brachte. Zu viert sitzen sie da, die Schauspieler, und verspeisen ihre Weckle, während im Hintergrund Jens’ Stimme ertönt: „Ich stelle mir den Augenblick so vor: Man stirbt und draußen machen Leute Urlaubspläne und es geht weiter, und es geht weiter. Und du bist nicht mehr dabei.“
Unterm Strich
„Vom Wert des Leberkäsweckles“ ist ein Stück, dem es gelingt, den schweren Themen Demenz und Sterbehilfe eine Prise Humor und Leichtigkeit beizugeben. Gepunktet wird mit großer schauspielerischer Qualität und einem vielseitigen Bühnenbild.
Reutlinger General-Anzeiger, 5. Dezember 2022
(von Thomas Morawitzky)
Jörn Klare bringt dem Gelehrten, der wieder Kind wurde, viel Gefühl entgegen, und Sascha Flocken inszeniert das Spiel klar, respektvoll und mit leisem Humor
Die Deutsche Bühne - Online, 4. Dezember 2022
Vom Entschwinden der Erinnerung
(von Manfred Jahnke)
Mit der Betonung des Komödiantischen erhält diese Inszenierung eine Leichtigkeit, die die „Schwere“ des Inhalts nicht entschwinden lässt