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Ein musikalischer Abend über das, was uns wirklich verbindet · Inszeniertes Konzert von Dominik Günther und Jörg Wockenfuß
Uraufführung
Schwäbisches Tagblatt, 28. November 2022
I’m so excited, I just can’t hide it
(von Peter Ertle)
„Sex!“ – unter dem vermutlich kürzesten und reißerischsten Titel der LTT-Premierengeschichte versammelt das Ensemble viel locker aneinander inszenierte Popmusik, um ein Gefühl einzukreisen, das so alt ist wie die Menschheit.
Im LTT laufen Musikrevuen immer klasse. Da muss man nicht so viel denken und erinnert sich an Hits der eigenen Jugend, was um so schöner ist, wenn diese schon lange zurück liegt – wie das bei den meisten der Fall ist, die heute noch ins Theater gehen. Schon deshalb ist mindestens eine Musikinszenierung pro Spielzeit Pflicht. Und dann haben sie am LTT ja schon seit Jahren ein auffällig musikalisch begabtes Ensemble. Was man auch diesmal gleich merkt, schon bei den ersten Liedern.
Beim dritten Lied richtet man sich erst auf in seinem Theatersessel, schiebt sich dann langsam nach vorn, während es still wird im Publikum: Was ist das für eine unglaubliche Stimme? Wer singt denn da? Die kennen wir ja gar nicht. Programmheft: Emma Schoepe. Eine Neue. Studiert noch, wie man nachher feststellt. Später an diesem Abend wird sie mehrmals ganz superb und manchmal auch berserkernd fiddeln, bis die Saiten fetzen. Wieder so eine musikalisch Begabte! Und als Schauspielerin kann sie auch mal allein die Bühne füllen und die Spannung halten. Ja, die anderen sind auch nicht schlecht, sorry, kennen wir halt schon. Dass Franziska Beyer ihren beifallsumtobtesten Auftritt hat, als sie Amy Winehouse singt, muss wohl so sein, wir erinnern uns da an eine frühere Musikrevue am Haus. Stephan Weber rockt martialisch und tanzt immer wieder mal sehenswert aus der Reihe. Jennifer Kornprobst zeigt, dass der Blasebalg der Quetschkommode ohne Tastendruck mächtig ins Stöhnen kommt. Dennis Junge tanzt Wahnsinnsfreestyle und spielt neben echtem auch Luftschlagzeug, was besonders gut ankommt. Die Leute wissen halt, was Theater im Kern ausmacht: Das „als ob“, der „Schein“. Früher stand dieses Wort mal für eine philosophisch-ästhetische Kategorie.
Und auch wenn hier eher das Sein, das besonders fleischliche, im Zentrum steht, geht es doch letztlich um das ewige Weh und Ach, das Sehnen und Verlangen – ein so metaphysischer wie gleichzeitig physischer Vorgang. Der auch komisches Potential hat: Gilbert Mieroph hatscht als trauriger Tintenfisch mit entsprechendem Tier oder dessen Fangarmen garniert durchs Stück, ein kleines Kind mit seinem Gutenachttier, stets überfordertes, desorientiertes Buffo-Element der Inszenierung, einmal so nervös und überaufgeregt, dass – ja, dass es eine Überleitung ist für: „I’m so excited, I just can’t hide it.“ So funktioniert das hier. Es geht also um – nein, nicht nur um Liebe, das auch, ja, aber Love wäre vielleicht eine Spur zu normal, zu bürgerlich, zu wenig exciting. Also: Sex. Alles unter dem roten Mond, sorry, Mund, von Soho oder anderswo.
Was die Einstiegsthese dieses Artikels betrifft, muss nun allerdings Abbitte geleistet werden: Es sind zwar etliche Hits dabei, bei der Mehrzahl aber handelt es sich um jeweils nur einer bestimmten musikalischen Klientel bekannte Songs, sogar richtige Perlen sind darunter. Primärschielen auf einen wie auch immer unterstellten Publikumsgeschmack kann man der Auswahl also nicht vorwerfen. Eher handelt es sich um eine erkennbare Programmatik, die als Schulaufgabe formuliert etwa so lauten könnte: Finden Sie Songs, die das Phänomen Sex in seinen verschiedenen Facetten und unter Berücksichtigung aktueller Befindlichkeiten und Debatten beschreiben. Aber sorgen Sie um Himmels Willen dafür, dass es nicht spröde wird. Das wäre eine glatte 6. Sie haben exakt 2 Stunden zwanzig Minuten Zeit. Und los.
Heraus kam dieser Abend, der auch mal ein „Leck mich am A, B, Zeh“ von Tic Tac Toe als Aufklärungssong der Aids-Prävention bringt (prima intoniert von Jennifer Kornprobst). Oder auf ein „Ich will nur fickn“ von Knorkator (natürlich Schwermetallgitarrenpunk, Stephan Weber stiert durch den Song) mit einem späteren: „Du willst mich ficken, doch du darfst es nicht“ antwortet. Ja, das F-Wort. Allgegenwärtig. Vor dreißig Jahren wäre das noch ein Stein des Anstoßes gewesen. Andere Zeiten. Aber es gibt auch die großen, tiefen Gefühle, wie in Billy Joels „Just the way you are“, fast logisch keine narzisstische Solonummer, sondern ein Vis-à-Vis zwischen (sing me a song-)Pianoman und dem großen Wir des Chors. Der musikalische Leiter Jörg Wockenfuß hat sich erkennbar Gedanken gemacht und oft eine gute Wahl getroffen, Regisseur Dominik Günther die Sachen mit viel Humor aninszeniert, wie man es wohl nennen muss. Denn so viel ist da gar nicht nötig. Jeder Blödsinn ist willkommen und wird zugelassen. Hey, wir könnten doch zu „Where is my Mind?“ nach unseren verlegten Brillen suchen! Super Idee! Schon ist es im Stück, das neben der musikalischen Pracht auch eine theaterwürdige Haar- und Kostümpracht ist (Sandra Fox).
Der unter gegebenen Umständen ordentlich besuchten Premiere nach zu schließen, könnte es sein, dass das Publikum allmählich wieder kommt. Junge Leute? Waren auch diesmal, bei diesem Thema, an den Fingern einer Hand abzuzählen. Dass die Älteren es sich anschauen und die Jüngeren es einfach machen, statt ins Theater zu gehen, muss vorläufig Spekulation bleiben.
So. Wir geben jetzt die Klassenarbeit zurück. Nein, es war doch eher eine ausgeprägt mündliche Note: Setzen. Sex. Das lag nahe. Bis zum nächsten Mal.
Unterm Strich
Songs und Sex – die unschlagbare Mischung. Der Abend hat aber auch eine deutliche Programmatik und viel Humor. Ausgelassene zwei Stunden zwanzig, denen man die Freude, allmählich wieder in die Pandemie-ungebremsten Theaterzeiten zu kommen, anzumerken glaubt.
GEA, 28. November 2022
Komische Triebe, steile Perücken
(von Thomas Morawitzky)
Theaterkonzert – Dominik Günther und Jörg Wockenfuß inszenierten mit »Sex!« am LTT eine vielseitige Pop-Show
Nun also spricht man von Sex am Landestheater Tübingen, von »dem, was uns wirklich verbindet«, wie der Programmheft frohlockt – beziehungsweise: Man singt davon, mit Leidenschaft, im inszenierten Konzert, das Dominik Günther und Jörg Wockenfuß dort am Freitagabend vorstellten. Denn, dies weiß der Normalverbraucher unbedingt: »Gefühlt neun von zehn Pop-Songs handeln vom Beischlaf.«
Womit natürlich schon eine Grenze gesetzt ist: Um Rock ’n’ Roll, der dieses Kriterium zu 99,5 bis 100 Prozent erfüllt, geht es an diesem Abend nicht. Das toxische Geschrei der Hardrock-Bands bleibt außen vor, und die 1970er-Jahre dürfen gerade einmal in der Liedgestalt von Billy Joels »Just The Way You Are« (1977) und Minnie Ripertons »Loving You« (1974) ins Programm – Riperton, wenige werden sich erinnern, konnte zwitschern wie ein Vöglein.
Ansonsten wird die Show, für die Dominik Günther als Regisseur und Jörg Wockenfuß als musikalischer Leiter 22 Songs und Medleys zusammengestellt haben, ganz von einer Gegenwart bestimmt, die in den 1980er-Jahren beginnt. Mit Stücken von Olivia- Newton-John, den Pet Shop Boys, Madonna, den Pixies. Eine Gegenwart, die ein wenig in den 1990ern verweilt und sich dann konzentriert auf das, was als musikalische Umschreibung ekstatischer Zweisamkeit seit der Jahrtausendwände in die Gehörgänge drängte.
All das haben sich Günther und Wockenfuß überzeugend angeeignet und anverwandelt. Die neuen Wendungen, die sie den Songs geben, verblüffen, amüsieren – und das Ensemble begeistert, obschon ihm am Premierenabend mitunter auch die Aufgabe zukommt, Ausfälle der Mikrofontechnik galant zu überspielen, mehr als einmal.
Die Bühne ist in sinnlich glühendes Rot getaucht; kantig stilisierte große Lippen stehen im Mittelpunkt. Aus ihnen treten die Darsteller hervor, erst einmal auch ganz in Rot, später dann auch mal mit Tiermaske. Gilbert Mieroph tritt auf als Super-Nerd mit besonders dicker Hornbrille. Dennis Junge und Stephan Weber, auf der Bühne auch als Instrumentalisten unterwegs mit Gitarre, Schlagzeug, Keyboards, wirken wie eine Wiederauferstehung von Modern Talking.
Franziska Beyer kommt mit welliger blonder Großfrisur daher, Emma Schoepe wild und mondän – ihre Version von Peaches’ »Fuck The Pain Away« mit grell angerissener Geige ist ein Highlight des Abends.
Überhaupt sind es vor allem die Darstellerinnen, die bei »Sex« auftrumpfen, widerständig, eigensinnig und erotisch. Auch Jennifer Kornprobst, die einem Verehrer, der nicht verhüten will, mit dem Frauen-Rap-Trio Tic Tac Toe empfiehlt: »Leck mich am A, B, Zeh«.
Öfter mal handeln diese Lieder also auch vom Sex, der nicht stattfindet. Oder von den unerfreulicheren Seiten des Themas. Gleich auf Ripertons zuckersüßes Lied folgt, zuerst über das Gitarrenmotiv von »The House of the Rising Sun« gesungen, das grobe »Ich will nur ficken« der Berliner Band Knorkator. Gilbert Mienroph wandelt verträumt mit einem Stoffkraken umher, Franziska Beyer wird zu Amy Winehouse. Irgendwann singt das ganze Ensemble »It’s a Sin« und ganz zuletzt singt es »Born this Way« von Lady Gaga 2011.
»Sex!« verzichtet darauf, seine einzelnen Musikstücke in ein Handlungsgerüst zu bringen, verzichtet auch auf jede Analyse seines Themas: Der Abend will gefallen, überraschen.
Das gelingt, jedoch: Wer sich auf ein Thema einlässt, das so groß ist, zu dem so viel gesungen wurde, wird und werden wird, der sollte vielleicht doch einen Rahmen schaffen für seine Auswahl. Hier fehlt der Fokus, die Linie.
Aber davon abgesehen bietet »Sex!« gute, inspirierte Unterhaltung, manchmal nostalgisch, dann wieder aufgekratzt, böse, nicht selten urkomisch.