Eine Klassikerüberschreibung von Maria Milisavljevic nach Henrik Ibsen · 15+
Reutlinger General-Anzeiger, 14. April 2025
Scheitern eines weiblichen Egos
(von Thomas Morawitzky)
Ibsens »Peer Gynt« bekommt in der Überschreibung von Maria Milisavljevic´ eine doppelte Titel-Antiheldin
Schwäbisches Tagblatt, 14. April 2025
(von Moritz Siebert)
Lauf, Peer Gynt, lauf: Das LTT lässt Peer Gynt (she/her) gegen das Patriarchat kämpfen und versucht, diese ambivalente Figur zu ergründen.
So verschieden sind Trolle und Menschen ja nicht, bis auf den Schwanz. Bei Henrik Ibsen ist es der Trollkönig und Brautvater, der dem jungen Peer Gynt einen ansteckt, um ihn ausreichend für die Hochzeit mit seiner Tochter auszustatten. Wenn nun aus Peer Gynt eine Peer Gynt wird, die gegen all das Vorgeschriebene, gegen gesellschaftliche Konventionen inklusive patriarchaler Strukturen kämpft, dann liegt es wohl nahe, dass aus diesem Schwanz ein Schwanz wird. Ein Schwanz als Bedingung für die Ehe mit der Tochter. Mit einem Schwanz, werben die Trolle, habe man doch gleich eine andere Perspektive: Du wirst sehen, liebe Peer Gynt, mit einem Schwanz lebt es sich doch viel leichter!
Selbstverständlich lehnt Peer Gynt ab. Peer Gynt bleibt Peer Gynt. Das LTT zeigt Maria Milisavljevics Überschreibung von Henrik Ibsens Klassiker mit dem Titel „Peer Gynt (she/her)“. Regie führt Friederike Drews. Für die Premiere musste das Team beim Personal improvisieren, weil sich Rosalba Salomon, Darstellerin der jungen Peer, verletzt hat. Robi Tissi Graf sprang kurzfristig ein, Paula Aschmann übernahm Grafs Rollen (Grüngekleidete, Dorfbewohnerin, Reiche, Irre). Und, hätte das niemand angekündigt, wäre es denn aufgefallen? Graf spielt die junge Peer Gynt großartig, eine unangepasste Draufgängerin, die darauf scheißt, was die Leute sagen, deren Drang, aus der Enge des Heimatdorfs auszubrechen, spürbar ist. „Brat“ wäre heute vermutlich die passende Bezeichnung. Aber sie ist auch eine Peer, deren Rücksichtslosigkeit und Egozentrik geradezu schmerzt, eine Peer, der man heute vermutlich nicht nur ADHS diagnostiziert hätte.
Milisavljevic splittet die Hauptrolle in zwei Peers, eine junge und eine etwa 20 Jahre ältere (Franziska Beyer). Die beiden begegnen sich, tauschen sich aus, kommentieren ihr Handeln gegenseitig. Grundsätzlich konzentriert die Autorin das Stück auf eine starke Zweiteilung. Die Bühne (Ev Benzing) ist in der ersten Hälfte von einer Straße dominiert, die, symbolträchtig, nur mit viel Fantasie ins Unendliche führt, in Wirklichkeit eher eine Sackgasse ist. Perspektivwechsel nach der Pause: Die junge, rastlose Peer beobachtet das Leben der alten, stinkreichen, aber ebenfalls rastlosen Peer – bezeichnenderweise von oben über den Kulissenrand. Die Bühne wird Interieur, in dem Peer ihren Reichtum zeigt, mit Sichtbeton, Designermöbeln und barock gekleideter Entourage (Kostüme: Anna Weidemann), mit gähnender Langeweile und Oberflächlichkeit.
Es dreht sich alles um Peer, aber um das zu verdeutlichen, braucht es eine Menge Nebenfiguren. Das Ensemble ist in vielen Mehrfachrollen zu sehen: Solveig Eger ist Trollkönigin, Irre und Solveig, Lucas Riedle ist der Bräutigam, den Peer ausspannt, Troll, Reicher, junger Kerl und Schiffskoch, Rolf Kindermann ist Knopfgießer, Troll und Händler, Jonas Hellenkemper Dorfbewohner, Troll und Händler.
So weit entfernt sich Milisavljevic bei ihrer Überschreibung tatsächlich nicht von der Vorlage, Handlung und Figuren sind erhalten, auch viel Originaltext. Edvard Griegs Schauspielmusik zu Peer Gynt, mindestens so berühmt wie Ibsens Bühnenstück selbst, deutet die Inszenierung an, in der „Halle des Bergkönigs“ läuft Techno.
Peer Gynt ist kein Held, auch keine Heldin, sondern eine höchst ambivalente, in der Tübinger Inszenierung eine ziemlich kaputte Figur. Die Tragik beginnt mit den schlechten Voraussetzungen: Der Vater hat sich zu Tode gesoffen, die Mutter (Jennifer Kornprobst), schwer depressiv, verzweifelt an der Tochter. Die Dorfgemeinschaft verachtet Peer. Was bleibt, als in Geschichten zu flüchten?
Die Unzufriedenheit und Rastlosigkeit der jungen Peer spürt auch die ältere, abgeklärte Peer, aus dem jugendlichen Trieb zum Ausbruch ist eine innere Leere geworden. Die Möglichkeit, dass Peer sich selbst begegnet und beobachtet, nutzt die Autorin für eine ausführliche Selbstreflexion der Figur, das Stück wird so auch zum Psychogramm. Der Dialog zwischen Jung und Alt erklärt – leider auch immer wieder Offensichtliches.
Manche Szenen mögen sich ziehen, in der Summe gelingt es dem Stück aber, die Düsterkeit mit ständigem Nachdenken über das Leben und Handeln der Peers mit humoristischen Momenten und Exkursen in die Gegenwart zu lockern: Der „junge Kerl“ kontrastiert Jugendslang mit Ibsen, die alte Peer erklärt anderen Neureichen, wie westliche Demokratien Reichtum ermöglichen – „es geht um das Bohren von Löchern“ –, oder dem Publikum das Prinzip von „Female choise“.
Die Erzählweise der Autorin mit zwei sich begegnenden Peers in unterschiedlichen Lebensphase ermöglicht es, Erlebtes retrospektiv, Künftiges als Vision wahrzunehmen. Das Zusammenspiel von Realität und Fantasie, gegen deren Trennung Peer am Ende auch kämpft, bekommt ein anderes Gewicht: Vielleicht hat Peer Gynt sogar die Chance auf eine frühere Erkenntnis, wo ihr Königreich eigentlich liegt – und was es ist.
Nachtkritik, 12. April 2025
(von Steffen Becker)
Maria Milisavljevic hat Henrik Ibsens Drama um ein Pronomen erweitert und doppelt weiblich besetzt. Regisseurin Friederike Drews inszeniert das in Tübingen als Zwiegespräch zweier Alter Egos.
cul-tu-re.de online, 12. April 2025
„Peer Gynt (she/her)“ – Ein Zauberkasten
(von Martin Bernklau)
Respekt! Am Tübinger LTT hatte am Freitagabend Maria Milisavljevic Gender-Variante von Henrik Ibsens Weltgedicht eine Premiere mit Hindernissen