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Doppelmonolog von Milo Rau
Reutlinger Nachrichten, 24. Januar 2019
Der Gutmensch und die Lust, schuld zu sein
(von Kathrin Kipp)
"Ein Rundumschlag also auf das Theater, auf die Charity, auf uns alle, bei dem Lisan Lantin mit völliger Hingabe die Abgebrühtheit ihrer Figur spielt."
„In den 90ern waren wir alle DJs“, in den Nullerjahren holten sie „Tiere und Arbeitslose“ auf die Bühne, danach Behinderte. Spätestens seit 2015 Flüchtlinge. Und so machen auch die Theater mit dem Elend der Welt ihr gutes Geschäft. „Mein Regisseur wollte einen Flüchtling, der Dramaturg meinte aber: Das interessiert doch keinen mehr“, erklärt Schauspielerin Lisan Lantin, die in ihrer „Mitleids“-Rolle als Schauspielerin wiederum an „völlige Hingabe“ glaubt.
„Das hat fast was Religiöses“. Vielleicht haben Regisseur Thorsten Weckherlin und Ausstatter Vinzenz Hegemann ihr deshalb eine heilige Umgebung gebaut und das LTT-Oben in eine Kirche verwandelt. Die Zuschauer sitzen auf Kirchenbänken, also mitten im Zentrum unserer eurozentristischen Barmherzigkeit, die sich von ihrer Mitschuld an den globalen Ungerechtigkeiten mit „Entwicklungshilfe“ moralisch rein wäscht.
Ein Rundumschlag also auf das Theater, auf die Charity, auf uns alle, bei dem Lisan Lantin mit völliger Hingabe die Abgebrühtheit ihrer Figur spielt. In ihrer Rolle als ehemalige NGO-Mitarbeiterin und jetzige Schauspielerin bewegt sie sich nicht nur auf der Grenze zwischen dem Kongo und Ruanda, sondern auch zwischen Schauspiel, Dokumentation, Fiktion, Metatext und (Theater-)Realität.
Von Mord, Vergewaltigung und Rachefeldzügen erzählt sie per antiktheatraler „Mauerschau“, bei der das Abschlachten nicht gespielt, sondern von Augenzeugen berichtet wird. Und wie Ödipus sollen auch wir uns fragen, welche Schuld wir an den Katastrophen in Afrika haben und wie wir vom bis heute nachwirkenden Kolonialismus und von der (Rohstoff-)Ausbeutung profitieren.
Um die Unmittelbarkeit des Schreckens, an die wir uns schon längst gewöhnt haben, zu steigern, erzählt auch Yasmin Nasrudin „ihre“ Geschichte. Wie ihre Eltern erschossen wurden und sie adoptiert wurde. Genozidbedingt gab es damals eine richtige „Kinderwelle“, aus den Adoptionen wurde ein Riesen-Geschäft. Im Nachhinein erzählt Yasmin Nasrudin wiederum, dass sie heute am Tübinger d.a.i. arbeite und quasi nur aufgrund ihrer Hautfarbe für diese Rolle gecastet wurde. Und so spielt auch diese Figur mit den Grenzen zwischen Theater und Realität, mit eigener und fremder Autorenschaft. Warum aber sind wir von dem Foto des toten Flüchtlingsjungen am Strand heftigst emotionalisiert, aber bekommen kaum mit, wenn Millionen ermordet werden? Wie funktioniert Mitleid?
Im Stück genießt Yasmin mit ihrer Geschichte unser vollstes Mitleid, während uns Lisan Lantin vorwiegend schockt: wie sie als abgestumpftes Girl ihren Bericht wie eine bizarre Urlaubsreise zum Besten gibt, wie sie sich kaltblütig und rassistisch mit absurden Einzelheiten wichtig macht. Wie sie etwa im Lager „die Täter durchfüttern“ mussten, und wie sie das große Abschlachten beobachtet. Ihrer Abgebrühtheit zum Trotz kehrt immer derselbe Alptraum zurück, in dem ihr plötzlich klar wird: „Ich bin an allem Schuld. Ich bin die Mörderin, die Vergewaltigerin“, der Ödipus, der sich an seiner Schuld berauscht.
Schwäbisches Tagblatt, 4. Dezember 2018
Die Kapitalisten des Leidens im Visier
(von Wilhelm Triebold)
So etwas wie das Stück der Stunde: Milo Raus "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs" rechnet auf der kleinen Oberbühne des LTT mit dem grassierenden Ablasshandel der Wohlmeinenden ab.
Vor kurzem erschien in der "Zeit" ein einleuchtender Artikel des Feuilletonisten Ulrich Greiner, der sich unter dem Titel "Die Lust, an allem schuld zu sein" Gedanken machte über den Hang, sich in einer Art "verweltlichter Erbsünde" wenn schon nicht wohlig, dann wenigstens wohnlich einzurichten im Hier und Jetzt.
Kann der Mensch, fragt Greiner, eigentlich reich und gut zugleich sein? Entlastet er sein "pseudochristliches Sündenkonto", indem er die ankommenden Flüchtlinge in einem Akt ungelenker Wiedergutmachung mit Willkommenskultur überschüttet - in den strikten (Binnen-)Grenzen seiner empathischen Möglichkeiten natürlich?
Dabei plagt den guten Menschen die Tatsache, so glücklich wie unverdient der "kulturell und wissenschaftlich dominanten Sphäre" anzugehören, "in die zu gelangen viele Menschen ihr Leben riskieren, allein dies macht ihn zum Täter. Er lebt (...) auf Kosten der Armen und Entrechteten."
Ein tragischer Konflikt, gewiss. Das griechische Drama bearbeitete solche Identitätskrisen, indem es den Helden (oder eben: Täter) ins kathartische Stahlbad schickte. Bis Ödipus seine Schuld einsah, die ihm keine Götter mehr abnehmen mochten. Bis ihm die Augen geöffnet wurden, bevor er sich endgültig blendete.
Dem Theatermacher Milo Rau schwebt anderes vor. Das erste der zehn Gebote, mit denen der frischgebackene Intendant des Genter Nationaltheaters (im "Genter Manifest") den Weg zu einem alternativen, politischeren Stadttheater vorzeichnen will, lautet: "Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird."
In letzter Konsequenz hieße das wohl, dem Wunsch jener Schauspielerin zu entsprechen, die in Raus Stück gegen Ende am liebsten das Publikum mit der Kalaschnikow niedermähen möchte. Aber keine Bange: Nicht nur die Premierenbesucher im LTT kommen mit heiler Haut davon. Das wird vermutlich in den weiteren Vorstellungen so bleiben.
Milo Raus Doppelmonolog, vielleicht so etwas wie das Stück der Stunde, wendet sich trotzdem engagiert und radikal gegen jeglichen "zynischen Humanismus" oder Betroffenheits-Idealismus, der gut gemeinte Hilfsreflexe als selbstkasteiende Entlastung, im Sinne eines persönlichen Ablasshandels, praktiziert. Doch auch dafür findet Rau ein ziemlich böses Wort, indem er von "Kapitalisten des Leidens" spricht: "Wir schlagen einfach aus den Opfern und Toten unserer Wirtschaft noch ein zweites Mal Kapital, indem wir sie im Kunstraum inszenieren und bemitleiden."
Insofern ist "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs" eine zornige, aber auch gerissene Abrechnung mit jener Haltung, die gerne - mit leicht denunziatorischem Unterton - als Gutmenschentum gekennzeichnet wird. Die Wohlmeinenden treffen die Schutzsuchenden, und das vor dem Hintergrund von Grauen und Gräueln: Hier erzählt eine junge Frau, die es als Angehörige einer NGO-Hilfsorganisation ins kongolesische Herz der Finsternis verschlägt, von teils apokalyptischen, abtraumartigen Erfahrungen - das aber im prosaischen Berichtston des Dokumentartheaters, der den Schrecken nur noch tiefer sacken lässt.
Die LTT-Oberbühne wurde dazu von Ausstatter Vinzenz Hegemann in einen weißen Sakralraum ausgekleidet, in dem das Publikum die harte Kirchenbank drückt - nicht gerade eine Erbauungsstunde, eher ein siebzigminütiges Erweckungserlebnis. Zuerst schildert Gelegenheitsschauspielerin Yasmin Nasrudin, die Regisseur Thorsten Weckherlin im Tübinger DAI für diesen Auftritt castete, in ruhigem, unaufgeregtem Ton ihren Werdegang, ihre Herkunft, und was sie hierher führte ins fremde, kalte, dafür sichere Land.
Das kann man als Prolog verstehen, später als Klammer zum ebenso prosaischen Monolog über das Völker- und Massenmordinferno, als Hutu-Höllenknechte über zusammengepferchte Tutsi herfallen und sie niedermetzeln. LTT-Schauspielerin Lisan Lantin fällt während des nüchternen Boten-Berichts nie aus der Rolle, sondern im Gegenteil manchmal in die Rollen zurück, die eine Theaterbühne bereitstellt. Dann reflektiert sie ihren Berufsstand ohne viel Bibbern und Brimborium, mit kühl sezierend-inszenierendem Blick: Theater höchstens als hilfreiches Handwerk. Oder als Mundwerk, wenn schon alles andere versagt.
Wer sich auf Milo Raus dokumentarisches Bloßlegungstheater einlässt, dem kann es an die Nieren gehen. Oder auf die Nerven. Weckherlins zurückhaltende Regie setzt kaum auf Effekte und diese quasi minimalinvasiv in Szene - etwa, wenn ein anschwellender afrikanischer Geräuschpegel von der Akteurin per - live produzierten - Mikro-Phonschleifen hochgefahren wird. Ansonsten sucht und findet Lisan Lantin den Blickkontakt zu allen, denen dieser ungeheuerliche Bericht gilt. Und es scheint, er kommt an.
Unterm Strich
Die Ohnmacht des Theaters besteht darin, dass es uns die - mitunter ziemlich raue Welt - nur widerspiegelt und somit vorgaukelt. Milo Rau will das ändern. Zwar wird jetzt auch am LTT in Raus Doppelmonolog das Erzählte keineswegs real, sondern bleibt pures Erzähltheater. Das macht aber nichts, denn die Inszenierung erweist sich als packend und erhellend zugleich.
nachtkritik.de, 3. Dezember 2018
(von Elisabeth Maier)
"Unmöglich, sich dem intensiven Spiel von Lisan Lantin und den erschütternd ehrlichen Bekenntnissen der schwarzen Performerin Yasmin Nasrudin zu entziehen"
Dröhnende Bässe empfangen die Zuschauer. Die Spielfläche ist von weißen Kirchenbänken gesäumt, und Josef und Maria als hölzerne Heiligenfiguren ziehen die Blicke auf sich. Doch die Krippe vor ihnen ist leer. Die versöhnende Kraft des Jesuskindes fehlt in dieser Inszenierung, die einen in eine klaustrophobische Situation holt. Eng zusammengepfercht sitzt das Publikum in der Bühneninstallation. Hier ist es unmöglich, sich dem intensiven Spiel von Lisan Lantin und den erschütternd ehrlichen Bekenntnissen der schwarzen Performerin Yasmin Nasrudin zu entziehen.
Als Milo Rau, Vordenker des radikalen Dokumentartheaters, die Produktion mit der Schauspielerin Ursina Lardi, Consolate Siperius und seinem Team im Januar 2015 an der Schaubühne Berlin entwickelte, hatte die Willkommenskultur ihren Höhepunkt erreicht. Jeder wollte helfen, übernahm ein Ehrenamt oder spendete Geld für die Flüchtlinge. Auch die Intellektuellen kümmerten sich.
Fast drei Jahre später weht nicht nur in der schwäbischen Universitätsstadt Tübingen und ihrem ländlich geprägten Umland ein rauer Wind für die Geflüchteten. Ihre Helfer sehen sich im Internet mit Shitstorms konfrontiert, angestoßen von Rechtsradikalen. Nicht nur in Chemnitz brodelt nackte Gewalt.
In dieser Situation wagt sich Weckherlin, der Intendant des Landestheaters Tübingen, mit frischem Blick an den Text, der ursprünglich auf Interviews mit Mitarbeiterinnen von NGOs, Non-Governmental-Organisationen im Kongo, beruht. Milo Rau bezeichnet den Monolog der Intellektuellen, die ihre eigene Schuld erkennt, als Aufdeckungsdrama im Stil des Ödipus-Mythos.
Im Zentrum von Weckherlins Inszenierung steht nun die Schauspielerin Lisan Lantin, die vom mühsamen Aufdecken erzählt. Dem Vergewaltigen und Morden der Hutu-Rebellen steht sie hilflos gegenüber. Der junge Christophe, dem sie einst mit Geld aus der eigenen Tasche das Leben rettete, wird selbst zum Mörder. Und sie muss mit ansehen, wie er eine ihrer Freundinnen grausam missbrauchen und töten lässt.
Mit klassischer Musik dröhnt sie sich zu, um die Schreie der Sterbenden nicht mehr hören zu müssen. Die hoch gewachsene Spielerin wendet sich an die Zuschauer, kauert an der Wand. Übers Mikro produziert sie mit Klopfen, Zischen und Soundeffekten die Lärmkulisse des Kriegs, die der Musiker Markus Maria Jansen zu einer brutalen Komposition des Todes arrangiert hat. Stationen der Entwicklungshelferin kritzelt Lantin mit schwarzem Filzstift auf ein großes Blatt Papier. Ihre Verzweiflung holt die Schicksale der Menschen ganz nah heran. Ohne Betroffenheitskitsch prangert sie die falsche Moral der Menschen und ihrer Medien an, die das Foto vom ertrunkenen Flüchtlingsjungen am Strand zutiefst berührt, die aber zugleich den Genozid im Kongo einfach ignorieren oder totschweigen.
Anders als Milo Rau, der Anfang und Ende von einer Kriegswaise und Überlebenden des Genozids im Kongo sprechen lässt, hat Weckherlin für diese Zeitzeugen-Parts eine junge Frau mit afrikanischen Wurzeln engagiert, die in der schwäbischen Kleinstadt Leinfelden-Echterdingen aufwuchs. Sie erzählt in der Tübinger Fassung auch ihre eigene Geschichte, die sich von Raus Vorlage unterscheidet.
In ihrem Monolog kritisiert Yasmin Nasrudin auch die fehlende Vielfalt im deutschen Theaterbetrieb. "Ich bin hier, weil es keine schwarze Schauspielerin im Ensemble gibt." So bricht die Performerin die Theatersituation auf, verweist auf fehlende Vielfalt auf den Bühnen. Und erzählt den Zuschauern, wie sie selbst die Ausgrenzung erlebt. "Der Rassismus fängt im Kleinen an, schon im Kindergarten wollten mir die anderen Jungen und Mädchen die krausen Haare verwuscheln."
Aufmärsche von Neonazis brauchen Weckherlin und sein Regieteam nicht einzublenden, um die tägliche Angst der jungen Frau vor deren Übergriffen zu zeigen. Ihr kluges Regiekonzept setzt an Alltagserfahrungen an. Wenn Nasrudin in ihrer klaren, unkomplizierten Sprache eine Szene aus Quentin Tarantinos Film "Inglorious Basterds" über die Verbrechen der Nazi-Schergen an einer jungen Frau schildert, verfehlt das seine Wirkung nicht. Dieses Morden geht im Kongo und in vielen anderen Ländern weiter, Tag für Tag. Milo Raus dokumentarisches Theater überträgt Weckherlin in seiner stimmigen Regiearbeit überzeugend auf die aktuelle Debatte, in der die Konfrontationen sich derzeit verschärfen.