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Monolog von Lot Vekemans · Deutsch von Eva M. Pieper und Christine Bais
Reutlinger Nachrichten, 23. Januar 2020
(von Wolfgang Albers)
Am Tübinger Landestheater feierte Lot Vekemans „Judas“ Premiere: Intendant Thorsten Weckherlin inszeniert einen Monolog über Schuld und Sühne.
Netter Kerl, dieser Judas. Steht vor der Bühne im LTT, begrüßt jeden Besucher mit Handschlag. Die langen Haare sauber gescheitelt, der Bart akkurat getrimmt, ein lässiges Jackett über dem Shirt mit dem Knopfkragen. Summt mit zur Hintergrundmusik. Aber so entspannt ist er dann doch nicht. Versucht erst mal mit einem Witz den lockeren Einstieg: „Neulich hat sich ein Freund von mir in einer Kirche eine Zigarette angezündet. Kann man doch nicht machen! Mir ist vor Schreck gleich das Bier aus der Hand gefallen.“ Haspelt sich dann weiter durch zu seinem eigentlichen Anliegen: „Es gibt da eine bekannte Geschichte von mir - und eine unbekannte.“ Kann man ja mal drüber reden. Ganz besonders in Tübingen. Hier hat Walter Jens in seinem „Der Fall Judas“ die Seligsprechung des als Verräter Jesu Verschrienen gefordert: „Ohne Judas kein Kreuz, ohne Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans.“ Und hier greift jetzt LTT-Intendant Thorsten Weckherlin die Debatte wieder auf. Am Samstag hatte seine Inszenierung „Judas“ Premiere, nach einer Vorlage der niederländischen Autorin Lot Vekemans, deren Interesse den Personen am Rand großer Geschichten gilt. Thorsten Weckherlin hat von der Erziehung her einen gutkatholischen Hintergrund, sieht sich selber aber eher als Agnostiker. Vor 20 Jahren hätte er so ein Stück eher nicht angefasst. Aber mit dem zunehmenden Alter – er ist Jahrgang 1965, wie Lot Vekemans – gelte inzwischen: „Ich als Theatermensch beschäftige mich gerne mit dem Religiösen.“ Auch deshalb: „Kirchen und Theater haben für mich etwas gemeinsam: die Konvention. Man kommt zusammen, sieht und wird gesehen. Schon deshalb hat Religion für mich immer viel mit dem Theater zu tun.“ So ?nden sich in Weckherlins Theater-Vita Inszenierungen wie Stefano Massinis „Ich glaube an einen einzigen Gott“, aber auch Mozarts „Entführung aus dem Serail“, produziert in Berlin in einer Kirche, einer Synagoge und einem muslimischen Gebetshaus. Den LTT-Judas hat das Ensemble fast exegetisch vorbereitet, mit einer Lektüre der Evangelien und Gesprächen mit Harry Waßmann, Pfarrer an der Tübinger Eberhardskirche und ein Spezialist für das Judentum. Widersprüchliche Quellen Aber auch das ändert nichts am Problem der Quellen: Die Evangelien überliefern Widersprüchliches (sie können sich nicht einmal auf die Todesart des Judas einigen) und sind generell an biographischen Details ziemlich uninteressiert. Diese riesigen Lücken (selbst von Jesus wissen wir fast nichts über seine ersten 30 Lebensjahre) haben all die Jahrhunderte mit viel Phantasie gefüllt. Schon im Urchristentum ?nden wir ein Judas-Evangelium, das Mittelalter hat Judas monströs zur Hass-Figur ausgebaut, und in der Moderne haben sich viele Autoren Jorge Luis Borges bis Rudolf Augstein für seine Psyche interessiert. Diesen Spuren folgen auch Lok Vekemans und Thorsten Weckherlin. Wobei der Intendant und Regisseur ein klares Ziel hat: „Ich will Judas wieder erden.“ Anders als etwa in einer Münchner Inszenierung, in der Judas-Schauspieler nackt in eine Distanz zum Publikum gebracht wird, sucht so Schauspieler Martin Bringmann den direkten Draht, steht erst mal vor der Bühne, mischt sich unter die Zuschauer: „Ich habe eine persönliche Geschichte, habe Familie, Freunde, Mädchen, die mir ge?elen.“ Und fast schon im Märchenton nennt er sein Geburtsdatum: „An dem Tag, an dem die Sonne am höchsten stand, und zu der Stunde, als ihr Schatten am längste n war.“ Aber so einfach wischt man die Last der Verrats-Geschichte ja doch nicht weg: „Erlöst mich von den Bildern, die sich mir auf die Netzhaut gebrannt haben, seinen Blick, sein abgrundtiefes Schweigen.“ Und so durchlebt und durchleidet Judas die Zeit mit Jesus noch einmal: Die Faszination über eine charismatische Figur, aber auch die Zweifel an dessen Weg: „Ich wollte einen König, mit dem wir für eine gemeinsame Sache kämpfen. Ich wollte nicht zu den Opfern, sondern zu den gerechten Herren gehören.“ Sie schienen ja schon auf bestem Weg, hatten Zulauf, waren Helden – und die Erinnerung versetzt Judas wieder in Ekstase. Martin Bringmanns Figur springt auf die Bühne, wo eine Collage des Abendmahlbildes da Vincis der einzige Aufbau ist, nimmt sich die Jesus?gur, spielt Luftgitarre zu David Bowies „Heroes“ – popkulturelle Power, die auch sonst manchmal den über einstündigen Monolog aufbricht, der Gedanken einer innerlich zerrissenen Person hin und her schiebt.
Warum also dann der Verrat? Die Exegeten bieten etliche Erklärungen von politischer Enttäuschung bis zum Werkzeug im Handeln Gottes, und Lot Vekemans dekliniert sie alle durch. Und gibt vor allem der Theorie Raum, dass Judas sich verzockt hat, die Kon?ikte zuspitzen wollte, aber nicht mit der Todesstrafe für Jesus gerechnet hatte: „Woher sollte ich wissen, dass es so viel Hass gibt, soviel Wut, dass so viele seinen Tod wünschten, dass Petrus und andere nicht für ihn kämpften?“ Verzockt – und die Sühne auf sich genommen: „Ich habe zugelassen, dass mein Name eine Ikone des Verrats wurde.“ Aber das ist 2000 Jahre her – lange genug, ?ndet Vekemans Judas. Und so stellt sich Martin Bringmann wieder ins Publikum: „Ich bin stolz auf meinen Namen. Ich spreche ihn laut aus: Ich bin Judas.“
Schwarzwälder Bote, 22. Januar 2020
Zwischen enttäuschter Hoffnung und Verrat
(von Christoph Holbein)
Wer war dieser Mann, dessen Name der Inbegriff für Verrat ist, wer war Judas Iskarioth wirklich, der für 30 Silberlinge Jesus an seine Feinde ausgeliefert hat? Antworten auf diese Frage versucht die niederländische Autorin Lot Vekemans in ihrem Stück „Judas“ zu geben. Und Thorsten Weckherlin übersetzt die An- und Einsichten dieses Monologs in seiner Inszenierung in ein authentisches Schauspiel. Dabei kann der Regisseur voll und ganz der Präsenz und Spielfreude von Martin Bringmann vertrauen, der seiner Figur glaubhaft Leben einhaucht.
Bringmann verkörpert den Judas Iskarioth, der seine Version der Geschichte und Ereignisse vor mehr als 2000 Jahren erzählt und von seinem Verhältnis zu Jesus und über seine enttäuschten politischen Hoffnungen berichtet, mit großer Intensität und inniger Nähe zu den Zuschauern, die er vor Beginn der Vorstellung persönlich mit einem Händeschütteln begrüßt. Barfuß und ein bisschen in Entertainer-Manier lässt der Schauspieler die Aufführung in einer lockeren Atmosphäre beginnen, um dann gleich mit einer kleinen grünen Kasse in der Hand nach demjenigen im Publikum zu fahnden, der angeblich nicht seinen Eintritt bezahlt hat. Doch so fröhlich bleibt die Inszenierung am LTT nicht. Weckherlin lässt seinen Protagonisten trotz einer gewissen Nonchalance mit Ernsthaftigkeit agieren. Bringmann geht dabei immer wieder ins Publikum und hält mit den Theaterbesuchern Zwiesprache, hält auch mal einem Zuschauer den Fuß oder drückt die Hände. Das ist gepaart mit einem kleinen, leisen Humor. Dabei lässt der Schauspieler auch die Unsicherheit und die Angst, die Judas anscheinend umgetrieben haben, erahnen. Das ist mit Dynamik und einem Steigern gestaltet. Die Dramaturgie nutzt dabei das Bühnenbild von Kay Anthony, das die Kopie des Gemäldes „Das letzte Abendmahl“ von Leonardo Da Vinci zum Hintergrund nimmt, ein Bild, das den Augenblick zeigt, nachdem Jesus verkündet hat, dass ihn einer seiner Jünger verraten wird. Judas agiert mit den Figuren des Gemäldes, tanzt mit Jesus, schmeißt einzelne Figurengruppen um, platziert sie von vorne nach hinten und umgekehrt, spielt gegen die Botschaft des Werkes an: Jesus, der Gute im Licht - Judas, der Böse im Schatten. Das Stück von Vekemans hinterfragt die Wahrheit, stellt die überlieferte Sichtweise der Dinge in Frage. Bringmann interpretiert das mit einem unaufgeregten Mienenspiel, baut emotionale Umschwünge ein, macht Kunstpausen und kreiert Stimmungswechsel: „Ich habe an allem gezweifelt, woran ich geglaubt habe.“ Und bevor es zu Ernst wird, stimmt er ein schrilles Indianergeheul an, schaut jedem Zuschauer tief in die Augen, um herauszufinden, wer denn nun keine Eintrittskarte hat, und lässt das Publikum kurz mitsingen: „Jesus Christ looks like me.“ Das lockert das Spiel auf und sorgt für ein spezielles Timing, wenn Judas seine Haare wild um sich wirft und zu rockiger Musik die Jesus-Gemälde-Figur zur E-Gitarre umfunktioniert.
„Wachrütteln“ wollte der Jünger Jesus, damit er die Römer niederschmettert, lässt Bringmann echauffiert das Publikum wissen und steigert dabei in treffenden Nuancen. Regisseur Weckherlin gibt ihm dazu kleine schauspielerische Details an die Hand, die vielsagend sind, lässt seinen Protagonisten zwischen lauten und leisen Szenen wandeln, zwischen hellen und dunklen Tönen und ihn auch mal die Stille und Ruhe aushalten. Das ist eindringlich und eindrücklich. Ein Appell, den Namen Judas laut und ohne Abscheu zu sagen und auf ihn stolz zu sein, denn „jemand musste es tun“. Nach etwas mehr als einer Stunde haben Stück, Regie und Schauspieler der Figur des Judas eine Stimme, ein Leben, ein Dasein verliehen. Eine endgültige Antwort gibt der Monolog nicht, will es auch nicht, überlässt dem Zuschauer, seine Schlüsse zu ziehen auf der Suche nach der Wahrheit: „Ist eine Geschichte wahr, wenn sie niemand bestreiten kann?“
Schwäbisches Tagblatt, 20. Januar 2020
Der Apostel mit den Pappkameraden
(von Dorothee Hermann)
Der Tübinger Landestheater-Intendant Thorsten Weckherlin testet mit dem Solostück „Judas“, wie eine ambivalente Figur aus einem religiösen Kontext sich auf der Bühne macht.
Unterm Strich
Wer kein Interesse an religiösen Stoffen mitbringt, wird sich schwertun mit dem Stück. Ebenso, wem es zu einfach ist, Judas überhaupt als das personifizierte Böse aufzufassen, oder wer gar nicht weiß, wer Judas war. Es überfrachtet das Theater, es als Instanz einer nachträglichen Bilderstürmerei aufzufassen, einmal auf die Religion, einmal auf die Kunstgeschichte bezogen.