Sie ist ihre eigene Hamletmaschine: Oda Zuschneid, sonst als Leiterin des Jungen LTT eher hinter der Bühne aktiv, wechselt in der One-Woman-Show „Hamlet“ souverän ins Rampenlicht und verkörpert ganz allein Shakespeares zweiflerischsten Helden samt den gewichtigen theatralischen Figuren um ihn herum (Regie: Fanny Brunner).
Um die gestaltwandlerische Bühnenzauberin in dem Zweistundenstück nicht überzustrapazieren, wurde die Personenliste gerafft. Mal reicht eine Krone, die viel zu leicht ist, um tatsächlich aus Gold zu sein, und schon hat man Claudius, den Mörder von Hamlets Vater, als König auf Ramschniveau vor sich. Mal markiert eine kriegerische Sturmhaube, die aus einem Kettenhemd gefertigt sein könnte, den Profiteur aller vorangegangenen Schreckenstaten: Fortinbras, Prinz von Norwegen. Die Aufführung orientiert sich an der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck, bearbeitet von Ensemble und Regie.
Mit ihrer Kappe in Schwarz mit Gold ist Königin Gertrude auf der Bühne eine elegantere und trotz ihrer Erbärmlichkeit auch würdigere Erscheinung als auf der wandhohen Fotografie im Hintergrund: Dort könnte ihr weißes Festkleid auch das einer Braut sein. Nur der Hintergrund, eine Art Lagerhalle, stimmt nicht, oder verweist womöglich auf die Unübersichtlichkeit der Gegenwart. Die Schrift an der Wand – „Endings Are The New Beg“ – bricht ab, als gebe es keine ausreichend sicheren Zukunftsperspektiven. Muss man künftig betteln (beg) gehen, oder darf man, anders als Hamlet, doch auf neue Anfänge (beginnings) hoffen, sofern man noch genügend Phantasie hat? Man müsste dann über die Stichworte „Tot. Alt. Neu. Macht. Besitz“ hinausdenken.
Zuschneid wird Hamlet, wenn sie den ärmellosen, grünen Fellmantel ab- und das Prinzenkostüm anlegt: schwarze Samtjacke mit schmalen goldenen Bordüren, schwarze Strumpfhose. Den abhängigen Sohnstatus macht das schier überlebensgroße Foto von Mutter Gertrude und Stiefvater Claudius klar. Davor ist ein Möbelstück platziert, das Ruheplatz sein könnte, aber stark an Sigmund Freuds Couch erinnert.
Doch anders als der Begründer der Psychoanalyse wechselt Zuschneid äußerst geschmeidig zwischen Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern, zwischen Frauen- und Männerfiguren hin und her. Nur der Narr im Streifenkostüm in Grau und Schwarz (Hofnarr Osrick) lässt sich gendermäßig nicht so leicht einordnen. Er ist ein weiteres Beispiel für das zirkusreife Verwandlungstempo, das die Solo-Schauspielerin an den Tag legt, wenn sie so beiläufig wie blitzschnell Kostüme und Requisiten wechselt.
Mal spricht Zuschneid einfach beiseite, und schon entsteht ein Dialog von zwei Figuren, etwa von Hamlet und von Horatio. Schaut sie erneut nach vorne, ist der Sprecher wieder Hamlet. Dann können einem der Prinz und der Diener vorkommen wie siamesische Zwillinge, oder wie ein Mensch in zwei Körpern. Zumal Horatio den Geist von Hamlets Vater ebenfalls gesehen hat.
Auch die Technik treibt die vielfachen Verwandlungen voran. Aus dem Off kommen Stimmen und Musik. Oder es tut sich ein eigentümlicher Hallraum auf, als würde man in den Jahrhunderte messenden zeitlichen Abstand zu Shakespeare hineinlauschen (Musik und Sound: Alex Konrad). Wenn Ophelia von Vater Polonius (nur eine Stimme aus dem Off) und Bruder Laertes wegen ihrer Liebe zu Hamlet zur Rede gestellt wird, äußert sie kleinmütig-unterwürfig (von Zuschneid parodistisch überspitzt): „Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich will gehorchen.“ Laertes rät der Schwester gar das Diktatoren-Motto „Nur Furcht gibt Sicherheit“ an; ein alarmierender Wahlspruch in Corona-Zeiten.
Unterm Strich
Hamlet im 21. Jahrhundert: eine rasante, vollgepackte Bühnenshow. Das Welt-aus-den-Fugen-Gefühl darf sich bis in die Musikeinlagen austoben. Bei der Theorie-Einlage und bei Hamlets Reise aus dem Bühnenraum hinaus franst die Intensität etwas aus.