Das Tübinger Sommertheater auf dem Bahnbetriebswerk am Festplatz
Schwarzwälder Bote, 11. Juli 2022
Im Land der rauchenden Colts und flotten Sprüche
(von Christoph Holbein)
Ein amüsantes Stück für einen unterhaltsamen Theaterabend
Reutlinger General-Anzeiger, 9. Juli 2022
Western-Verschnitt mit woker Note
(von Markus Raab)
Das LTT entführt mit »Fünf vor High Noon« auf dem Bahnbetriebswerk am Festplatz nach Tü City
Südwest-Presse, 9. Juli 2022
Hier fährt kein Zug nach Nirgendwo
(von Wilhelm Triebold)
Das LTT geht mit einer Westernparodie aus sich heraus. Die Musik überwältigt.
Schwäbisches Tagblatt, 9. Juli 2022
(von Moritz Siebert)
Die Location passt perfekt, die Inszenierung ist ein Spektakel.
Tü-Town liegt im Nirgendwo, aber irgendwie doch mitten in Tübingen.Bild: Anne Faden
Es ist schon ziemlich trostlos hier draußen. Der Totengräber werkelt vor sich hin, die Bardame trinkt, der Sheriff stimmt ein Liedchen an, bei dem er selbst einschläft. Früher, da war noch richtig was los, jeden Tag ne kleine Schießerei. Jetzt herrscht Recht und Ordnung in Tü-Town. Für ein Western-Städtchen bedeutet das: Krise in allen Branchen. Der Totengräber hat nichts zu tun. Die Bardame verkauft nur noch Holunderblütenschorle. Da muss sich doch was ändern.
Für das Sommertheater hat das LTT das Bahnbetriebsgelände am Festplatz in eine Western-Welt verwandelt. Die Location, ein Lost Place mit verfallender Fabrikhalle im Hintergrund, ist genial. Und dann rollt auch noch im passenden Moment ein Zug vorbei, zwar keine Dampflok, aber immerhin ein IC. Am Donnerstag hatte „Fünf vor High Noon“, ein Stück von Sandra Fox und Dominik Günther, der auch Regie führt, Premiere. Ausverkauft war nicht.
Nach und nach ziehen Figuren ein in Tü-Town und stellen sich vor. Das klassische Western-Personal eben: die arrogante Ranch-Besitzerin Lady Widefield (Katja Uffelmann) mit rebellischer Tochter (Clara Schulze-Wegener), die drei recht dämlichen Desperados (Jürgen Herold, Dennis Junge und Stephan Weber), das unbeholfene Greenhorn (Justin Hibbeler). Sie bringen Leben in die Bude, es wird gesoffen, gerülpst und gezockt, gesungen und getanzt. Und damit sind die Aufgaben verteilt? Nicht ganz, jede Figur hat ihre eigene Geschichte, jede hadert irgendwie mit der ihr zugeschriebenen Rolle. „Wenn ich nicht so ein verdammter Saufkopf wäre, hätte ich es weit gebracht“, stellt einer der Schurken fest.
Der Totengräber (Rolf Kindermann) philosophiert über die Wertschätzung der Ganoven gegenüber seiner Tätigkeit. Und ist Sneaky Snake (Hannah Jaitner), die dem Totengräber assistiert, wirklich nur das mysteriöse Geschöpf, das Opfer in deren eigenen Sarg lockt? Nein, auch sie ist eine verlorene Seele mit Vergangenheit: „Die Guten sterben jung, das stimmt nicht, die Falschen sterben jung.“
Ihre Geschichten erzählen die Figuren in der kunstvoll gestalteten Bühne von Sandra Fox (von ihr stammen auch die Kostüme): Sechs riesige Buchstaben, alle bespielbar, als Saloon, als Gefängnis, als Showbühne. Im Breitformat tun sich überall Nebenschauplätze auf, überall gibt es etwas zu entdecken, ob Gesten, Mimik, kleine Handlungen oder Soundeffekte.
Aber um was geht es hier eigentlich? Die Handlungsfelder sind die klassischen Westerngeschichten, Die Ranch-Besitzerin möchte mehr Land und vermisst ihre Rinder. Ihre Tochter bandelt mit dem Greenhorn an. Der Sheriff (Gilbert Mieroph) hofft auf den großen Aufschwung durch die geplante Over-the-Länd-Bahn. Die Schurken haben es auf Gold abgesehen, wollen es aber auch nicht mit dem ominösen Peitschenmann zu tun bekommen, der eigentlich eine Peitschenfrau ist, genannt Orro (Insa Jebens). Der Doc (Andreas Guglielmetti) sorgt für die Gesundheit der Bewohner („Abstinenz oder Tod“), vertickt aber auch sonst so ziemlich alles, was man im Wilden Westen braucht.
Bloß: Wenn zwölf ziemlich gleichwertige Gestalten an einem Abend ihre Geschichten erzählen, alle damit in einer Story ihren Platz finden und eine Funktion haben sollen, dann geht das auf Kosten der Handlung, die irgendwie überall, aber nirgendwo so richtig stattfindet. Dazu kommt , dass das Stück offenbar so viel Spektakel und Western-Klischees wie möglich unterbringen möchte, von der Badewanne, in der ein Cowboy geschrubbt wird, über den Ritt durch die Prärie, Kampfszenen, Duells, bis zur großen Explosion. Da organisieren sich die Schurken Dynamit (das sie übrigens mit Karte bezahlen – Herz As), um einen Canyon zu sprengen. Wozu? Eher Nebensache, Hauptsache es knallt. Das Stück strotzt nur so vor Ideen für Anspielungen und Bezüge auf aktuelle gesellschaftliche Debatten (vom Generationen- bis zum Geschlechterkonflikt) und auf Tübinger Kommunalpolitik. Ob Nachtruhe, Verpackungssteuer oder Impfstoffentwicklung – der Doc möchte aus einem gezogenen Zahn Impfstoff herstellen, um Tü-Town zur Impfcity zu machen: All das soll irgendwie unterkommen, wirkt aber häufig konstruiert.
Einer der drei Schurken (Dennis Junge) landet ständig im Gefängnis, einmal weil er eine Zigarette wegschnippt (60 Dollar Geldbuße), ein andermal, weil er einen Blumenkübel in den „Rio Necko“ wirft. Dass er häufig in der Zelle landet, hat natürlich auch einen Grund, dort steht sein Schlagzeug, und wenn er in der Zelle sitzt, kann man sicher sein, dass musiziert wird (Gitarre: Stephan Weber; Bass: Jürgen Herold; Singende Säge: Rolf Kindermann).
Musikalisch ist das Stück (Leitung Jörg Wockenfuß) hingegen ziemlich gut: die Auswahl der Stücke, aber auch, mit wenig Abstrichen, die Interpretationen des sehr musikalischen Ensembles. Highlights sind sicher die „Ace of Spades“-Variante, „Bang Bang“ von Nancy Sinatra und, klar, der Countrytitel „Arizona Arizona“.
Einer der coolsten Momente des Abends ist dann auch der Beginn der zweiten Hälfte mit dem Song „After Dark“. Mit untergegangener Sonne, mit Beleuchtung und Lagerfeuer wirkt die Atmosphäre des Spielorts noch besser. Nun könnte sich die geradezu surreal wirkende Hektik des Tages endlich legen, das Chaos sich in Ordnung verwandeln, damit die Einzelteile zusammenfinden.
Nun ja, die Hoffnung erfüllt das Stück nicht, es gibt ja noch so viel zu Ende zu bringen. „Die Weichen sind auf Zukunft gestellt“, sagt der Sheriff. Aber kommt die Over-the-Länd-Bahn nach Tü-Town? Sie kommt! Die Bahn? Nein! Die Tochter der Saloon-Betreiberin (Franziska Beyer). Die war wohl schwanger. Und das ist dann auch die Gelegenheit, um am Ende noch mit den Rollenbildern im Western aufzuräumen. Der Vater (Jürgen Herold), einer der drei Desperados, kann nämlich nicht den Job des Sheriffs übernehmen, weil er ja in Elternzeit ist.
Der alte Sheriff ist der große Verlierer. Die Over-the-Länd-Bahn kommt nicht, die Gleise enden in Gentleman-Hill. Die Bahngesellschaft ist pleite. Und im großen Duell, richtig, das Duell um fünf vor High Noon, unterliegt er auch noch. Und wer hat eigentlich die Rinder der Ranch-Lady gestohlen? Nein, es war nicht der Schurke, der völlig zu unrecht fast am Galgen baumelte. Die Tochter und das Greenhorn, sie haben die Viecher freigelassen. Die beiden übernehmen die Ranch, wollen aber keine Viehzucht, sondern Biolandbau betreiben – zum Song „Unsere Farm in the Middle of the Länd“. Sonst noch was ungeklärt? Das Gold! Der Schlagzeug-Schurke und seine Brüder machen sich damit aus dem Staub – um den Overload perfekt zu machen mit echten Motorrädern. Puh.
Unterm Strich
Um was geht es hier eigentlich? So viele Ideen, Figuren, Effekte, Anspielungen und Bezüge – das geht auf Kosten einer schlüssigen Handlung. Mit einem sehr musikalischen Ensemble wird es dennoch ein unterhaltsamer Abend.