Rinaldo Steller, Jennifer Kornprobst, Lisan Lantin · Foto: Tobias Metz
Lisan Lantin, Rinaldo Steller · Foto: Tobias Metz
Lisan Lantin, Jennifer Kornprobst, Rinaldo Steller · Foto: Tobias Metz
Jennifer Kornprobst, Rinaldo Steller, Lisan Lantin · Foto: Tobias Metz
Lisan Lantin, Jennifer Kornprobst, Rinaldo Steller · Foto: Tobias Metz
Lisan Lantin, Jennifer Kornprobst · Foto: Tobias Metz
Jennifer Kornprobst, Lisan Lantin, Rinaldo Steller · Foto: Tobias Metz
Jennifer Kornprobst, Lisan Lantin, Rinaldo Steller · Foto: Tobias Metz

Erschlagt die Armen!

Nach dem Roman von Shumona Sinha · Deutsch von Lena Müller


Reutlinger Nachrichten, 17. Oktober 2019

Perfide Dreiecksgeschichte

(von Jürgen Spieß)

"Gesellschaftspolitisches Theater kann zynisch und hintergründig sein. Vor allem, wenn es um ein so brisantes Thema wie die Unzulänglichkeit des europäischen Asylsystems geht."

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Schwäbisches Tagblatt, 8. Oktober 2019

Wenn Empathie in Aggression umschlägt

(von Peter Ertle)

Regisseurin Pia Richter kippt die Szenerie am LTT aus einem realistischen Setting ins Künstlich- Alptraumhafte, Klaustrophobische

Stechend gelbes Licht, aseptische Einrichtung: Es ist kein angenehmer Raum (Bühne: Julia Nussbaumer), in dem diese Verhöre stattfinden, Identitätsüberprüfungen zur Feststellung, ob Asyl gewährt wird. Es geht hauptsächlich um Flüchtlinge aus dem indischen Raum, und es spielt in Paris, übrigens irgendwann vor 2011. Hierzulande ist der Roman der indisch-französischen Schriftstellerin Shumona Sinha allerdings so richtig populär erst geworden, als nach 2015 der Flüchtlingszuzug zum alles beherrschenden Thema wurde.

Sinha selbst kam unter ganz anderen Umständen nach Frankreich, aus gutem Hause und zum Studium. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse wurde sie Dolmetscherin der Asylbehörde. Und „spuckte“ eines Tages diesen Roman aus, wie sie selbst formulierte. Der fiktive Monolog einer fiktiven, ebenda arbeitenden Dolmetscherin, der damit beginnt, dass sie selbst verhört wird. Zu einem Tathergang. Sie soll auf einen Migranten mit einer Weinflasche eingehauen haben.

So auch im LTT – wo nach dieser Szene der Rückblick-Monolog auf die Arbeit der Angeklagten auf drei Personen aufgespalten wird. Das ist naheliegend, denn es gibt ja stets: einen Asylbewerber, einen Dolmetscher und einen Befrager und Asyl-Entscheider. Die Rollen wechseln zwischen Jennifer Kornprobst, Lisan Lantin und Rinaldo Steller, jeder ist mal Flüchtling, Dolmetscher, Befrager. Der Zuschauer hört und sieht die hanebüchenen Lügen der Asylbewerber, die Kälte und den Spott der Beamten. Wobei sich hier schon mal fragt, ob die wirklich alle so waren, so sind. Es sieht schon sehr nach Klischee aus. Auch auf der Seite der Dolmetscherin gibt es viel Verachtung und Wut für die Selbsterniedrigung ihrer Landsleute, aber auch deren patriarchales Männerbild. Ansatzweise blitzt auch etwas Mitgefühl auf – aber erstaunlich wenig.

Da sitzt eine zwischen den Stühlen ihrer Herkunft und dem Land ihrer Wahl, trägt beides in sich und ist beidem fremd geworden, zumindest dieser inhumanen Prozedur. Das sollte wohl sichtbar werden. Aber dafür steht sie – zumindest in dieser Inszenierung – doch allzu deutlich, wenn auch frustriert (aber das sind hier alle), auf Seiten der Behörde, für die sie arbeitet.

Aber wo sehen wir die (unterdrückte?) Anteilnahme für die Flüchtlinge, wo sind die Ressentiments ihrer Figur gegen diese Asylverfahrens-Prozedur, die ihrem verletzten Stolz, ihren auf die Flüchtlinge umgeleiteten Ressentiments die Waage halten? Kommen sie auch im Roman nicht vor? Oder nur hier? Haben wir sie schlicht übersehen? (Wäre sie keine aus Indien stammende Dolmetscherin, man würde rassistische Motive diagnostizieren. Und hier?)

Regisseurin Pia Richter kippt die Szenerie am LTT aus einem realistischen Setting ins Künstlich- Alptraumhafte, Klaustrophobische. Verstärkt diesen Zug später sogar mit Masken, wohl um den automatenhaften Zug zu akzentuieren. Schwer tut man sich hier allerdings, um die Erschöpfung der Mitarbeiter und die ins Private, bis in den Sex hineinstrahlende Anonymität beziehungsweise Dissoziierung der Dolmetscherin zu bespielen, die Fremdheit, die sie der Behörde gegenüber und im Kontakt mit ihren Kollegen erfährt.

Die hier angepeilte Umsetzung als Verbiegung und tragikomische Farce bleibt meist bemüht komisch und harmlos. Nur die von Lisan Lantin gespielten Annäherungsversuche an ihre Kollegin machen da eine Ausnahme – weil sie psychorealistisch nachvollziehbar sind. Ob die Psychologie dabei in signifikantem Zusammenhang zu ihrer Hautfarbe und/oder ihrer konkreten beruflichen Tätigkeit steht, ist indes ungewiss. Warum aber sollte es sonst gezeigt werden? Um im Gegenteil zu sagen, dass sie so tickt wie alle heute?

Dafür spräche, dass die Herkunft der Dolmetscherin in dieser Inszenierung nicht dauernd thematisiert wird. Aber Grundvoraussetzung, ja zentrales Motiv des Romans und des Stücks ist sie und die damit einhergehende, gesteigerte, am Ende umschlagende Empathie ja doch. Haben wir sie gesehen im LTT? Kaum. Mehr hochgespannter innerer Zwiespalt, mehr Liebe in der Hassliebe – als Kontrast zu ihrem Spott und ihrem Genervtsein – wäre gut gewesen. Und mehr Mut zu gelegentlichem Scheißverhalten seitens der Flüchtlinge. Hier aber gerät der Zuschauer in eine gut aufgeräumte Welt überforderter, unsympathischer Behördenleute inklusive der Dolmetscherin – und Flüchtlingen, mit denen man halt Mitleid hat. So bleibt am Ende nur eine Aussage: Wir brauchen eine bessere Asylgesetzgebung.

Das stimmt. Und ist das Wichtigste. Aber wir hätten die Folgen der schlechten Gesetzgebung gern konfliktreicher am Psychodrama der Dolmetscherin abgelesen.


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Schwarzwälder Bote, 8. Oktober 2019

Steriles Spiel in nüchterner Atmosphäre am Landestheater

(von Christoph Holbein)

„Erschlagt die Armen!“ im LTT-Oben offenbart sich als wütend-poetische Anklage

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