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Reutlinger Nachrichten, 27. Juni 2018
(von Kathrin Kipp)
Rebekka Kricheldorfs Fassung von Don Quijote hat am LTT Premiere gefeiert.
"Ihr Kackbratzen! Noch nie gehört, dass Sprache das Bewusstsein formt?“ Mit vielen „zuckersüßen Wortpralinen“ und „sinnverwirrenden Spiegelungen“ kommt Rebekka Kricheldorfs wunderhübsche „Don Quijote“-Fassung daher, die aus Miguel de Cervantes’ 1500-seitigem Blockbuster zwei närrische Theater-Stunden herausfiltert. Sie erzählt, wie der romansüchtige und eingebildete Ritter Don Quijote mit dem bodenständigen Sancho Pansa gegen Windmühlen kämpft, vermeintlich entführte Prinzessinnen befreit, seiner Dulcinea, die am LTT als kubistisch-abstraktes Gemälde herumgeistert, huldigt und mehr Ritterlichkeit, Schönheit, Gerechtigkeit und Liebe in die Welt bringen will.
(…) „Mal imitiert die Kunst das Leben, mal das Leben die Kunst“ – eine muntere literaturphilosophische Unternehmung prallvoll mit Metatext, Parodie, Ironie, Verstellung, Selbsttäuschung, Übertreibung und peppigen Sprüchen. Erzählt man sich Geschichten, damit man sich lebendig fühlt, oder lebt man, damit man etwas zu erzählen hat? Wird man nicht erst dann unsterblich, wenn man zu einer erfundenen Geschichte wird? Ist Literatur nicht auch real? Und sind wir nicht alle Witzfiguren?
Alfons jedenfalls hat sich ein paar Ritterromane zu viel reingezogen, erfindet sich deshalb neu und zieht als Don Quijote los. (…) Am LTT ist es Andreas Guglielmetti, der als unermüdliches Stehaufmännchen und als sympathischer Loser, als Blender und Verblendeter, als idealistischer Sisyphus, als pathetischer Poet und pathologisch romantischer Galan mit unglaublicher Energie und rhetorischer Lust loszieht, die Welt vom bösen Zauber zu befreien und dabei immer wieder auf die Schnauze fällt, aber unbeirrbar und unbelehrbar weitermacht: Bewundernswert, bemitleidenswert oder einfach nur ein schrecklicher Idiot und Gewaltkatalysator? Daniel Holzberg als biederer Ex-Postbote Sancho Pansa versucht verzweifelt, ihn auf den Boden der Tatsachen zu holen – vergeblich.
Nicht erst seit die Realität virtuell geworden ist, ist sie eine Sache der Brille, mit der man sie betrachtet und damit Eigenkonstruktion. Sancho Pansa konzentriert sich auf die eher handfesten Dinge des Lebens: Essen, Trinken und Weglaufen, wenn’s gefährlich wird. Rhetorisch konzentriert er sich ganz auf das Verdrehen von Redensarten und Fremdwörtern. Trotz seines schlichten Gemüts ist er ganz groß im Sichrausquatschen. Sabine Weithöner, Gotthard Sinn, Jürgen Herold und Mattea Cavic versuchen derweil als Haushälterin, Pfarrer, Barbier und Nichte, Don Quijote aus seinem Wahn zu befreien und heimzuholen, indem sie in seinem verrückten Denksystem mitspielen und ihn so austricksen wollen. Dabei streiten sie dauernd, wer welche Rolle spielen darf, wenn sie sich ihm als Kakteen, Windmühlen oder Figuren seiner Ich-Geschichte in den Weg stellen. Die Geschichten, die Sprache, die Figuren und die Gags sind so irre, dass Regisseur Jan Jochymski gar nicht groß übertreiben lassen muss. Mit Bühnenbildnerin Sabine Schmidt hat er sich für ein überspitzt naives und trashiges Bühnen-, Requisiten- und Schauspielsetting entschieden, sodass Ritter und Knappe mit bepuschelten Steckenpferden durch die Gegend hoppeln, vorbei an lustigen Kakteen, riesigen Windmühlen, menschlich dunklen Wolken und wackligen Tarnbüschen im Schülertheaterstyle. Die Kulissen erzählen außerdem das Blaue vom Himmel. (…) Und nach vielen weiteren „überraschenden Momenten“ weiß am Ende niemand mehr, wo Literatur aufhört und Realität anfängt.
Generalanzeiger Reutlingen, 25. Juni 2018
Die Windmühlen des Menschenverstandes
(von Thomas Morawitzky)
Das LTT bringt »Don Quijote« von Miguel de Cervantes in einer Fassung von Rebekka Kricheldorf auf die Bühne
(...) Rebekka Kricheldorf, Autorin eines anderen Jahrhunderts, hat den »Don Quijote« nicht nur dramatisiert. Ein zeitloser Held war der Ritter immer schon, nun oszilliert er gewitzt zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Andreas Guglielmetti ist nicht so groß und dürr, wie man sich den Quijote allgemein vorstellt. In Hemd und Hose steckt er außerdem, die einem bequemen Mittelstandsrentner von heute gehören könnten. Daniel Holzberg, eben noch der Postler, wird ihm folgen und seine gelbe Tasche niemals beiseitelegen. (...)
Schwäbisches Tagblatt, 25. Juni 2018
(von Peter Ertle)
Don Quijote plätschert am LTT zwischen blöd, intelligent und belanglos, ist stellenweise hübsch anzusehen und gefällt mit ein paar schönen Witzen und Bühneneinfällen. Am Ende hat man es fast lieb und wundert sich.
Gut, um einen herum wird immer wieder gelacht. Aber das sind ja auch keine schon von Berufswegen grimmig gestimmten Kritiker, sondern Menschen, die unverständlicherweise gut aufgelegt sind und wild entschlossen, sich im Theater irre zu amüsieren. Vielleicht trifft auf sie zu, was der Barbier im Stück sagt: "Literatur generell macht schon schwachsinnig. Aber Ritterromane machen regelrecht irre."
Nachtkritik, 23. Juni 2018
(von Elisabeth Maier)
Don Quijote – Jan Jochymski ruft mit Rebekka Kricheldorfs Cervantes-Adaption am Landestheater Tübingen zur Befreiung aus gescheiterten Lebensentwürfen
Weltliteratur, ins Wohnzimmer eines schrulligen Träumers verpflanzt: Bei Rebekka Kricheldorf, der Meisterin zeitgenössischer Komödienkunst, flüchtet Don Quijote alias Herr Alfons in eine Scheinwelt der Poesie. Die aber öffnet ihm den Weg in reale Abenteuer. Seine Vertreibung aus dem Bücherparadies beflügelt die Ironie der Gegenwartsautorin. Miguel de Cervantes Meisterwerk klopft sie auf seine Aktualität ab. Seine Vertreibung aus dem Bücherparadies liefert dem Ensemble des Landestheaters Tübingen nicht nur herrliches Rollenfutter. Regisseur Jan Jochymski kitzelt in seiner vergnüglichen Interpretation gerade die leisen, dunklen Töne von Kricheldorfs Text heraus, der im Mai 2017 in Osnabrück uraufgeführt wurde. Das Leben tut weh. Aber schön ist es doch.
"Literatur generell macht schon schwachsinnig. Aber Ritterromane machen regelrecht irre", findet der Barbier, der zu Alfons' Gefolgschaft gehört. Mit Pfarrer, Nichte und Haushälterin sitzt Andreas Guglielmetti, der den Ritter von der traurigen Gestalt mimt, am Esstisch. Mit großen Augen erzählt er von seiner Sehnsucht nach echten Abenteuern. Der Himmel in Sabine Schmidts Bühnenraum ist so hyperblau wie in einem surrealistischen Gemälde von Salvador Dali. In dieses überdrehte Familienidyll schneit der Postbote herein und bringt einen historischen Ritterroman vom Online-Bücherversand. Den Nobody mit der gelben Tasche macht Alfons zu seinem Sancho Pansa.
Zu zweit mischen sie nicht nur die vertrocknete Landschaft der spanischen Mancha auf. Andreas Guglielmetti zeigt seinen Ritter von der traurigen Gestalt als einen Menschen, den die Poesie vom Frust des Alltags befreit. Daniel Holzberg als Sancho im Postler-Dress suhlt sich in schrägen Versprechern – den großen Literaten Cervantes nennt er Serrano, weil er die ganze Zeit an Schinken und schweren Rioja denkt. Mit zerzaustem Haar und irrem Blick zelebriert er ein Lachtheater, das einfach herrlich ist.
Frisch und ironisch ist Kricheldorfs Theatersprache, der Plot so dynamisch gebaut wie ein Comic. Jochymski hält dieses Tempo durch, aber immer wieder hält er inne. Ihn interessiert die Traurigkeit der Menschen, die sich aus gescheiterten Lebensentwürfen befreien. Aus dem reichen Fundus des 1500 Seiten starken Cervantes-Klassikers hat sich die Autorin zu urkomischen Typen inspirieren lassen, die sehr gegenwärtig sind. Der Barbier, der in ein peinliches Kaktus-Kostüm aus der überbordenden Traumfabrik Sabine Schmidts schlüpfen muss, wäre eigentlich lieber Maskenbildner in Bad Hersfeld. Jürgen Herold erzählt das so anrührend, dass das Publikum mitleiden muss. Und Mattea Cavic als mitfühlende Nichte will ihren Onkel Alfons aus seiner wahnsinnigen Welt retten. Bis sie am Ende selbst ihre Träume lebt.
Gotthard Sinn und Sabine Weithöner machen als Pfarrer und Haushälterin eine ebenso gute Figur wie als die legendären Windmühlen, gegen die Don Quijote kämpft.
Regisseur Jan Jochymski schafft den Spagat, in der urkomischen Wirklichkeitsflucht der Figuren Tiefenschärfe zu finden. Alfons alias Don Quijote, der seit dem sechsten Lebensjahr Bücher liest und mit Ihnen in eine Welt der Fantasie vordringt, hilft den anderen, ihre Träume zu leben. Auf diese schöne, sehr einfache Botschaft hat er Kricheldorfs Text konzentriert, der sich bisweilen in komischen Schleifen verheddert. Mit spanischer Musik und verblüffenden Bildern lässt das Regieteam das Publikum am Ende gar noch vom Urlaub in Spanien träumen. Muscheln, Sombreros und Fischernetze, die von der Bühnendecke purzeln, sind dann allerdings doch zu dick aufgetragen. Das kitschige Ende ist des Guten zu viel. Der ebenso überzeugenden wie mitreißenden Leistung des Landesbühnen-Ensembles tut das keinen Abbruch.