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Schauspiel von Bertolt Brecht · Musik von Paul Dessau
Schwarzwälder Bote, 29. September 2020
Pointierte Aussagekraft im filigranen Fingerspiel
(von Christoph Holbein)
Die Inszenierung von Brechts »Der gute Mensch von Sezuan« überzeugt
Wie außerordentlich schwer es ist, auf dem Weg zu einer gerechteren, egalitären Gesellschaft als Individuum auf dem moralischen Pfad zu bleiben und Initiativen zu ergreifen, um Missstände abzuschaffen und Ungerechtigkeiten zu beseitigen, zeigt Bertolt Brecht in seinem Theaterstück »Der gute Mensch von Sezuan«. Das Werk hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt, was auch die Inszenierung am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) in der Regie von Dominik Günther beweist.
Der Regisseur und sein Team übersetzen Brechts Parabel, die erzählt, wie die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bis in die Privatsphäre hinein durchdringt, in anschauliche Bilder. Das fängt bei den Kostümen und dem Bühnenbild an, für die Sandra Fox verantwortlich zeichnet: Das Geschehen spielt vor, in und auf einer bühnenhohen Hochregalwand. Die Götter treten auf in weißen Ganzkörper-Schutzanzügen mit Mund-und Nasenmaske und Visier, tänzeln in einer humorvollen Choreografie über die Bühne. Die »lieben Nachbarn« erscheinen mit Pappkartons auf dem Kopf. Der Wasserverkäufer steckt wie ein Fußballvereinsmaskottchen in einer textilen Wasserflasche.
Wie ein roter Faden durch die Dramaturgie setzt Regisseur Günther auf beredte, das Gesagte untermalende Spiele seiner Protagonisten mit den Fingern und Händen: Da wird der Zeigefinger gestreckt, mit den Händen gewunken, die Faust gebildet. Ohnehin spielt sich vieles auf der Bühne in einer tänzerischen Beweglichkeit ab. Bestens erarbeitet sind die Songs mit der Musik von Paul Dessau. Der Gesang der Protagonisten ist treffend. Das sorgt für klare Bilder, affekt- und effektvoll inszeniert, pantomimisch untermalt und gestützt durch die überzeugenden schauspielerischen Leistungen des Ensembles, allen voran Franziska Beyer, die ihre Figuren – die Prostituierte Shen Te und das von dieser erfundene Alter Ego, den skrupellosen Vetter Shui Ta – mit großer Stärke interpretiert. Dabei kommt insgesamt auch das Komödiantische nicht zu kurz.
Günther überlässt keinen Gang dem Zufall, reizt die Körperlichkeit seiner Schauspieler aus – mitunter bis ins Marionettenhafte. Das ist plakativ, gut pointiert und sprachlich schön gesetzt, wenn auch nicht immer bei allen ganz deutlich in der Artikulation. Bei aller Ernsthaftigkeit des Themas wartet die Inszenierung auch mit amüsanten Farbtupfern auf. Es ist eine stimmige Regiearbeit, intensiv und durchdacht und filigran durchwoben.
Reutlinger Generalanzeiger, 28. September 2020
(von Armin Knauer)
Kapitalismus-Gleichnis mit schrägen Liedern: Bertolt Brechts »Der gute Mensch von Sezuan« am LTT
Kann man gut sein in einer Gesellschaft, in der jeder nur an sich selbst denkt? Das fragte das LTT zum Auftakt seiner neuen Spielzeit mit der Premiere von Bertolt Brechts Anti-Kapitalismus-Klassiker »Der gute Mensch von Sezuan«. Aber eigentlich lag über der Premiere die ganz andere Frage: Kann man Theater machen in einer Gesellschaft, in der das Coronavirus grassiert? Wenn LTT-Intendant Thorsten Weckherlin zur Begrüßung verkündet, die Premiere sei »ausverkauft«, dabei aber nur etwa 70 Personen vor sich hat, die auf Abstand verteilt sind, dann liegt da eine Mischung aus Ironie und Verzweiflung in seiner Stimme.
Aber ja, es wird gespielt, es wird sogar aus voller Brust gesungen auf der Bühne, auch wenn deshalb die ersten drei Stuhlreihen freibleiben müssen, damit niemand gefährliche Atemluft-Partikel abbekommt. Den Corona-Abstand auch auf der Bühne zu garantieren, ist zur neuen sportlichen Disziplin der Regisseure geworden. Auch Dominik Günther lässt sich dazu allerhand einfallen. Ein Liebespaar auf Distanz, das sich über einen Strick zärtliche Signale zusendet. Stadtbewohner, die in regalartigen Parzellen isoliert sind. Schon jetzt zeigt sich, dass das Spiel ohne Körperkontakt nicht nur Verlust bedeutet, sondern auch Fantasie freisetzt, einen eigenen Reiz entwickelt.
Zumal es Brecht in »Der gute Mensch von Sezuan« genau darum geht: Ob Solidarität überhaupt gelebt werden kann, wenn jeder mit gespreizten Ellenbogen für sich steht. Ausstatterin Sandra Fox hat dafür die ganze Bühne mit einem riesigen Industrieregal verrammelt. Das ist das kalte Gestänge der modernen Gesellschaft – der Mensch haust hier in industriellen Funktionsnischen.
Brechts chinesische Exotik haben Günther und Fox dem Stück ausgetrieben. Hier leben kleidungsmäßig Leute wie du und ich. Die drei Götter, die schauen wollen, ob sich noch ein guter Mensch auf Erden finden lässt, stecken in weißen Corona-Schutzanzügen mit Plexiglas-Visieren. So viel Ironie muss sein.
Unterkunft gewährt ihnen nur die Prostituierte Shen Te, die dafür mit einer größeren Summe Geldes belohnt wird. Mit dem unerhofft satten Trinkgeld erwirbt sie einen Tabakladen – und findet sich sofort von Mitbürgern in Not umlagert. Shen Te gibt und hilft – und wäre in Nullkommanix bankrott, würde sie nicht in ihrer Not einen knallharten Vetter erfinden. Der – nämlich sie selbst in Schlips und Sakko – ist brutaler Kapitalist, regelt die Geschäfte mit harter Hand und macht aus dem Tabakgeschäft eine Fabrik, in der er alle für sich schuften lässt. Kann man also nur gut sein, wenn jemand Böses den Weg dafür bahnt?
Aus heutiger Sicht wirkt Brechts Shen Te nicht gut, sondern eher naiv. Selbst jeder Rotkreuzhelfer im Krisengebiet weiß, dass der Helferschutz vorgeht und nur helfen kann, wessen Wohl gesichert ist. Und doch ist das Stück noch immer aktuell. Wie vielen Flüchtlingen will man Schutz geben? Wie vielen Menschen beistehen, die der Klimawandel in Not gebracht hat? So gesehen hat das Stück auch heute noch Brisanz. Die gleichnishafte Art, mit der Brecht dabei argumentiert, neigt dabei allerdings zum Schablonenhaften. Die Charaktere sind typisiert, die Handlung ist plakativ und vorhersehbar. Wie haucht man diesem von vornherein als Lehrstück angelegten Geschehen trotzdem Leben ein?
Brecht hat es mit einer für ihn typischen Mischung aus sprachlichem Pathos und revueartiger Komik versucht. Regisseur Günther weiß mit beidem gut umzugehen. Er zieht gestanzten Sentenzen à la »Wie soll ich gut sein, wo alles so teuer ist?« den Zahn des Oberlehrerhaften. Und er gönnt dem Bühnentreiben genügend Slapstick, um das Schablonenhafte der Parabel in bissigen Humor aufzulösen.
Die Schauspieler, die immer wieder zu Musikern werden, tun mit ihrer Spiellaune das Ihrige dazu, dass die gut zwei Stunden kurzweilig werden. Spielerisch und ohne Scheu vor Klamauk verpassen sie Brechts theatralischer Gemeinschaftskundestunde einen anarchischen Witz.
Stefan Weber steckt als Wasserverkäufer Wang in einem Ganzkörper-Flaschenkostüm aus Plüsch und markiert großartig den Marktschreier vom Dienst. Franziska Beyer, nach längerer Zeit wieder ins Ensemble zurückgekehrt, berührt als liebe Shen Te, die es allen recht machen will. Und begeistert als fieser Vetter, der es allen zeigt. Konrad Mutschler schwankt als stellungsloser Pilot Yang Sun wunderbar zwischen echter Liebe zu Shen Te und eitel-arrogantem Macho-Gehabe.
Darum herum nicht weniger gut aufgelegt all die anderen, die mit Eifer dabei sind, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Wobei immer wieder Zeit ist, für einen skurrilen Tanz oder ein angemessen schräges Lied aus der Feder von Original-Brecht-Komponist Paul Dessau. Hier wirbeln E-Gitarrenklänge, dort weht ein wehmütiger Flötenton, Keyboardharmonien grundieren das Ganze (musikalische Leitung: Dominik Dittrich). Auch das bringt Farbe und Witz in die strenge Parabel.
Können wir helfen? Und wenn ja, wie vielen? Die Götter wissen darauf am Ende auch keine Antwort bei Brecht. Ob das Theater wieder lebt in Corona-Zeiten, darauf gibt es allerdings mit diesem Stück eine eindeutige Antwort: Ja, tut es.
Schwäbisches Tagblatt, 28. September 2020
Etwas muss falsch sein in eurer Welt
(von Peter Ertle)
Theater Spielzeitauftakt am LTT: Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ als sichere Nummer in den Grenzen eines Klassikers.
Der gute Mensch von Sezuan ist eines der populärsten Stücke Brechts. Formal hat das viel mit der Doppelrolle und dem hin- und herswitchenden Versteckspiel zu tun. Inhaltlich gesehen: Dass ein guter Mensch sich nur durch Hartherzigkeit sprich Schlechtigkeit davor schützen kann, ausgenutzt zu werden, ist ein nachvollziehbarer Topos. Und ob die unbarmherzigen Regeln des Kapitalismus befolgt werden müssen, um erfolgreich zu sein, ist ein heute wieder vieldiskutiertes Thema. Wer sich nicht anpasst oder verstellt, geht unter? Ist das so? Muss das so sein? Und wie könnte es anders werden?
Tumbe GötterBei den Göttern ist die Beantwortung solcher Fragen schlecht aufgehoben, schon die Fragen sind nicht die ihren, und von Wirtschaftlichem haben sie keinen blassen Schimmer. Es reicht ihnen, alibimäßig ein einziges gutes Exemplar zu finden, um einen positiven Haken hinter das Projekt Mensch setzen zu können. In dieser Inszenierung taumeln und wackeln die göttlichen Toren (Rolf Kindermann, Dennis Junge, Andreas Guglielmetti) als tumbe Coronaraumfahrer durch die Szenerie, an der Schnittstelle zwischen Brecht und Monty Python. Der Mensch, auf den sie zuerst treffen, ist Wang, der Wasserverkäufer, ein verdrehter Batman mit großem W für Wasser und einem abgebildeten Wassertropfen auf dem Leibchen. Stefan Webers Wang möchte man immerzu knuddeln.
Sandra Fox hat für die Inszenierung ein großes Gerüst aus Eisengestängen gebaut, das zunächst mit kleinen Vorhängen versehen die Häuser und Wohnungen der Stadt abbildet. Lagerleben, Armeleutebaracken. Später wird die Anlage zur Tabakfabrik, noch später die fahrbare Regaltreppe zum Gefängnisgitter. Einfach, multifunktional.
Die Bühne grundiert das drollige Sozialmärchen mit einer gewissen Hintergrundshärte. Das zweite Märchen sprengende Hallowach stammt aus einem anderen, aber ebenso ernsthafter einbrechenden Reich: Der Musik. Was Dominik Dittrich aus den Melodien Paul Dessaus macht – und wie das überaus musikalische und im Instrumentenspiel versierte Ensemble das intoniert – gehört mit zum Besten dieser Inszenierung.
Passgenau verschnittenDie Lieder sperren sich, gleichzeitig greifen und verstören sie, während das Stück längst so handhabbar geworden ist wie die für Shen Tes Kiosk passgenau zugeschnittenen Bretter des Schreiners: Verschnitten. Dafür kriegste nicht mehr viel. Am besten im Museum moderner Klassiker aufgehoben. Wobei es ja so ist, dass die Liedtexte sprich die Lyrik Brechts auch ohne Musik seinen mitunter putzigen Dialogen weit überlegen sind.
Weil sie nur sich selbst und nirgends sonst hingehören, aber überall gut passen, schneien die Songs immer schräg, fremdvertraut und austauschbar in die Stücke – was denen guttut. Seine Kraniche aus dem berühmten Gedicht „Die Liebenden“ hätten hier aufgrund des Fliegers Yang Sun besser gepasst als in „Mahagonny“, der Elefantensong hätte in „Mahagonny“, „Mann ist Mann“ und ein paar weiteren Stücken mindestens so gut gepasst wie hier. Und was Polly in der „Dreigroschenoper“ sagt über „Wo du hingehst will auch ich hingehen“ – Shen Te hätte es genauso sagen können.
Der Flieger Yang Sun ist der bekannte, leidenschaftliche Halodri, auf den kein Verlass ist, dem aber gerade deshalb die Herzen zufliegen, eine weitere Ausgabe der Herren Peachum, Surabaya Johnny und tutti quanti . Entweder gehören sie dem Verbrechen oder der See oder dem Himmel. Oder (beim Autor selbst) der Literatur.
Konrad Mutschler gibt als Yang Sun ein starkes Debut, Julia Staufer ein ebenso gelungenes als Witwe Shin. Franziska Beyer – schön, dass sie wieder da ist! – verleiht Shen Te zu wenig Zerbrechlichkeit. Aber vielleicht ist es ja falsch, dass wir sie uns so vorstellen. Es funktioniert schon. Wie die beiden Liebesleute mit dem Seil, an dem sich Yang Sun aufknüpfen wollte, die ersten zarten Bande knüpfen, gehört zu den glücklichen Regieeinfällen Dominik Günthers. Anderes wie ein kurz anchoreographierter Formationstanz irritiert in seiner Zusammenhanglosigkeit eher. Und das sich durchziehende Winkewinkemotiv oder ein (Tatütata die Polizei ist da) auf Kasperlfigur reduzierter, dafür aber schonungslos prügelnder (soll das etwa ein Aktualitätsbezug sein?) Polizist (Dennis Junge) sind der Albernheiten zu grob und viel.
Dann geht die Luft ausDafür verleiht Rolf Kindermann seinem bürgerlichen Shu Fu als Gegenspieler zum proletarischen Yang Sun die rechte Kontur. Erst Shu Fu, die Tabakfabrik (es könnte auch ein Lager von Amazon sein) und die Wandlung des Fliegers zum Fabrikkarrieristen (da wird er sogar für Susanne Weckerles Hausbesitzerin Mi Tzü wieder interessant) führen in unser (post)industrielles Zeitalter. Da sollte es doch jetzt richtig interessant werden!
Doch außer dem aus jeder Pore schwitzenden Mutterstolz von Yang Suns Mama (Sabine Weithöner), einem Da-capo-Hingucker fürs Publikum – kämpft das letzte Drittel der Inszenierung mit der Spannung. Brecht tut da mit immer noch einer weiteren schicksalhaften Verstrickung des Guten und Schlechten zu viel.
Wir haben eh längst verstanden. Dass wir die Verhältnisse ändern müssen. Jeden Tag. Jeder von uns. Warum fangen wir nicht an? Was hindert uns? Oder was unterscheidet ein Brechtstück von der Welt?
Unterm Strich
Starkes Bühnenbild, starke Musik eines an Instrumenten versierten Ensembles. Ein Stück, so zeitlos aktuell wie etwas einfach gestrickt - Brecht eben. Eine Inszenierung mit gelungenen und albernen Einfällen, die existenzielle Dramatik blitzt zu selten auf, die letzte halbe von zwei Stunden wird etwas lang. Oh je – jetzt klingt es zu schlecht, nein: Schon ganz passabel, die Produktion.