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Schauspiel von Jennifer Haley · Deutsch von Michael Duszat
Reutlinger Nachrichten, 13. Dezember 2017
(von Kathrin Kipp)
Zwischen Realität und virtueller Welt: Das LTT zeigt den Technologie-Krimi „Netzwelt“ von Jennifer Haley.
(...) Darf man im Netz Dinge ausleben, die in der Realität verboten sind? (...) Braucht es in den Phantasiewelten Gesetze und Zensur? Und hat es diese tabulosen Spiel-Paradiese nicht immer schon gegeben?
(...) Ebenen vermischen sich. Auch in der „Netzwelt“ der LTT-Werkstatt vermischen sich ständig die Ebenen zwischen der realen Welt, in der Mister Sims als Unternehmer agiert, und seinem virtuellen „Refugium“ (...). Und so werden Fragen diskutiert, wie sie auch schon über Porno- und Gewaltmedien diskutiert wurden. Morris will dem realen Sims die Illegalität seiner Umtriebe nachweisen und versucht deshalb Doyle (Gotthard Sinn) als Informanten anzuwerben. Außerdem spioniert ein gewisser Woodnut (Jürgen Herold) im Refugium herum, der allerdings Gefallen an dessen Schönheit und Möglichkeiten ?ndet: „Es ist okay zu vergessen, wer man zu sein glaubt, und entdeckt, wer man sein könnte“, säuselt die neunjährige Iris (Mattea Cavic). Sie existiert ausschließlich im Refugium und spielt die Spiele ihres Schöpfers bereitwillig mit. Will aber auch „real“ von ihm geliebt sein.
Ausstatterin Angelika Wedde hat für das Refugium auf der Bühne einen surrealen Spiegelsaal mit seichten Naturbildern an den Wänden entworfen. Durch diverse Tapetentüren kann man zwischen den Welten und Identitätszuständen hin- und herwechseln. So besteht im Refugium die Möglichkeit zu körperlosen Beziehungen. Und so switcht die Szene ständig zwischen Realität und virtueller Welt hin und her, zwischen Diesseits und Jenseits, und man kommt als Zuschauer ganz schön durcheinander. Aber das ist Absicht, denn die Autorin hat eine tricky Au?ösung auf Lager.
(...)
Allen voran spielt Mattea Cavic grandios das blasse Püppchen Iris, das sich immer wieder spurlos missbrauchen und töten lässt. Das aber andererseits zu viel Liebe von „Papa“ Sims einfordert, der ihr deshalb mit Ausschluss droht. Denn auch im Refugium gelten Regeln: Man muss seine Anonymität wahren. Und „echte“ Gefühle würden das System aus dem Gleichgewicht bringen. Laura Sauer wiederum als reale Ermittlerin wirkt wie eine ferngesteuerte Diskussionsmaschine. Fast hat man Mitleid mit Sims, der allerdings reichlich Pro?t aus den seelischen Schäden anderer schlägt. Raphael Westermeier spielt diesen pseudokorrekten Typ, der genau weiß, was er tut. Gotthard Sinn spielt den verletzlichen Opfer-Täter Doyle, während sich Jürgen Herold als verdeckter Ermittler Woodnut selbst zu Straftaten verleiten lässt. Am Ende ist man selbst hin- und hergeworfen.
Schwarzwälder Bote, 8. Dezember 2017
Verwirrt und verloren in der Cyber-Realität
(von Christoph Holbein)
„Die Netzwelt“ hinterlässt mehr Fragen als Antworten
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Im Stück „Netzwelt“ bewegen sich die Protagonisten in einem wunderschön im Stil der viktorianischen Zeit gestalteten Haus, dem „Refugium“, einem virtuellen Raum, in dem die angebotenen virtuellen Lustobjekte Kinder sind, Avatare, Produkte der Fantasie von Sims, der diese virtuelle Realität erschaffen hat. (...)
Eine Frage, der Ermittlerin Morris nachgeht, die den Geschäftsmann Sims überführen will, aber bald selbst in den Bann der Netzwelt gezogen wird, und ein spannender Ansatz für dieses Schauspiel. Doch irgendwie verirrt sich das alles in der mitunter akademischen Wortlastigkeit des Werks, und die Inszenierung findet nicht so wirklich die richtigen Mittel und Antworten darauf. Das wirkt im Agieren der Schauspieler nicht glaubhaft innerlich, berührt nur in wenigen Momenten, bleibt aufgesetzt und technisch - ohne tiefgehende Emotionalität - und hinterlässt beim Zuschauer, der in der Funktion des Kritikers das Stück anschaut, eine gewisse Ratlosigkeit, was er damit anfangen soll.
Wie ein roter Faden zieht sich das immer wieder a capella im Chor der Schauspieler angestimmte Kinderlied „Auf einem Baum ein Kuckuck saß“ durch das Stück, die Musik, von Stefan Faupel mit Tobias Weiß kreiert, untermalt das Geschehen und das Bühnenbild von Angelika Wedde eröffnet viel Spielraum, allein das Agieren auf der Bühne bleibt meist statisch und gerät etwas langatmig. (...)
Interessant und nachdenkenswert wird es, wenn Ermittlerin und Verdächtiger sich über die Konsequenzen dieser Virtualität widerstreiten: hier die Rechtfertigung, dass es nur Bilder ohne Konsequenz seien, reine Fantasie, in der die Menschen frei und absolut privat seien, – dort die Anklage, das Bilder Realität erschaffen und es Grenzen in der Fantasie gebe.
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Was ist real, was nicht, wer ist wer? Was hat Konsequenzen, was keine Bedeutung? Habe ich etwas getan oder doch nur virtuell? Sind alle nur Avatare oder doch reale Monster? Wirkt sich Verhalten im virtuellen Raum auf die Realität aus?: Haleys Stück wirft die hochaktuelle Fragestellung auf, wie die Menschen mit den bereits existierenden Möglichkeiten der virtuellen Realität umgehen sollen. (...)
Schwäbisches Tagblatt, 4. Dezember 2017
(von Wilhelm Triebold)
Faszination und Schrecken im Refugium: Sascha Bunges Inszenierung von Jennifer Haleys "Netzwelt" überzeugt in der Werkstatt.
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In Sascha Bunges sehenswerter LTT-Inszenierung zeigt sich das Refugium erst einmal als eine Art Ruheraum, wie er im Rückzugsbereich einer Sauna vorkommen mag (Bühne: Angelika Wedde). Mitten im angeblichen Idyll steht allerdings ein Tor aus Neonleuchten, über dem Dantes Warnung stehen könnte: "Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren."
In diesen Zwischenwelten mit digitaler Pforte ermittelt nun eine Detektivin, die auf der Suche nach den Übeltätern selbst der Versuchung zu erliegen droht. Bunges Regie kommt dabei ohne alle Schock- oder Schmuddel-Elemente aus, es herrscht der - ab und zu auch mal lauter werdende - Kammerton vor in der Konversation zwischen Ermittlerin und den von ihr Verhörten.
Laura Sauer spielt diese Netz-Detektivin Morris mit beherrschter, aber auch wachsender Empörung, gepaart mit Hilflosigkeit. Wenn es jenseits von Gut und Böse noch andere Kräfte gibt, versagt auch der edelste kriminalistische Spürsinn.
(...) In Tübingen lässt man nun Raphael Westermeier als Mr. Sims im viktorianischen Karo-Outfit für den rechtsfreien Darkroom streiten: ein manierlich auftretender Gentleman, der sich seine kleinen Mädchen erschafft, ein Pygmalion der schönen neuen Netzwelt. Ruhig und gelassen, durch nichts zu erschüttern.
Sims fühlt sich, zumindest anfangs, unangreifbar in dieser Domain namens "Refugium". Domain lässt sich passend mit Herrschaftsbereich übersetzten, heißt aber auch: Domäne. In diesem Wort schlummern schon die Dämonen. Die Inszenierung lässt sie nicht frei, doch sie sind immer unsichtbar anwesend. Und so geht es bald schon nicht mehr vorrangig nur um Rechtmäßigkeit oder Illegalität, um Privatsphäre oder Strafverfolgung. Sondern auch darum, ob oder wie die Parallelwelt des Internets den Schlaf der Dämonen stören könnte.
Gotthard Sinn gibt überzeugend den an seinem Päderastendasein verzweifelnden Stammkunden Doyle und Jürgen Herold einen schmucken sauberen Spielkameraden im virtuellen Drecks-Netzwerk. Großartig allerdings, wie Mattea Cavic das kleine Mädchen Iris spielt. Eine schwierige Rolle zwischen den Spiegeln, einerseits Hirngespinst des Schöpfers Sims und somit ein Avatar-Geschöpf. Andererseits menschlicher als all die anderen Figuren um sie herum und am Ende mit eigenen Wunschbildern und Sehnsüchten versehen. Mattea Cavic schafft die Balance auf diesem schauspielerischen Schwebebalken hervorragend.
(...)
Unterm Strich
Mit Jennifer Haleys "Netzwelt"-Dystopie greift das Landestheater ein Thema auf, das immer zwingender nach Antworten sucht: Wie verändern die Möglichkeiten, in virtuelle Echoräume zu flüchten, auf Dauer die menschliche Wahrnehmung und Identität? Wer darüber nachdenken will, was kommenden Generationen blüht, ist hier richtig. Für U 40 und alle, die an der Zukunft interessiert sind.
Reutlinger General-Anzeiger, 4. Dezember 2017
(von Thomas Morawitzky)
Jennifer Haleys Stück »Die Netzwelt« über eine amoralische digitale Parallelwelt feiert Premiere am LTT
In der Zukunft gibt es »Schatten« – das sind Menschen, die in die virtuellen Welten übergegangen sind, während ihr Körper am Leben erhalten wird. Es gibt eine Netzpolizei, die Nutzern den Zugang zu diesen Welten verweigern kann, und es gibt das »Refugium«, eine Plattform in viktorianischem Stil, auf der Pädophile ihren Neigungen virtuell nachgehen können.
Am Samstag feierte »Die Netzwelt« auf der Werkstattbühne des LTT Premiere, Erfolgsstück der Amerikanerin Jennifer Haley, uraufgeführt 2013 – ein Schauspiel, das, weitab von plakativen Effekten, nach Wirklichkeit fragt, Verantwortung, das so scharf und provokant auftritt wie die US-Serie »Westworld« oder die Romane des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick. Ein Stück, das die Zuschauer verführt, verstört, zu ausweglosem Denken anregt.
Zunächst einmal geht es um einen Kriminalfall. Morris heißt die Ermittlerin, die Sims, den Betreiber des Refugiums, im virtuellen Raum trifft. Es sind Avatare, die sich dort begegnen; keiner kennt die wahre Identität des anderen. Und Sims leugnet schließlich auch nicht mehr, im Netz den Missbrauch, gar den Mord an Kindern zu inszenieren. Aber, sagt er: Diese Kinder sind keine Kinder. Nicht nur sind ihre Körper virtuell, erstehen immer wieder – Minderjährigen ist der Zutritt zum Refugium zudem verwehrt; wer immer die Mädchen tatsächlich verkörpert, ist längst erwachsen, hat eingewilligt in das Rollenspiel.
(...)
Das fünfköpfige Ensemble gibt unter der Regie von Sascha Bunge eine sehr überzeugende Vorstellung. Angelika Wedde hat die Bühne intelligent und verführerisch gestaltet: Ein Muster aus schwarzen, weißen Dreiecken bedeckt den Boden, darüber Pappeln, Bäume, ein vielfach durchbrochenes Bühnenbild, das eine räumliche Tiefe schafft, in der sich die lauschenden, beobachtenden Figuren der virtuellen Welt verbergen können, dazu Spiegel, in deren Abbildern sie lauern.
Hier, vor der täuschenden Tiefe, eingefasst von Neonleisten, diskutieren die Figuren des Stückes durchaus angestrengt, werfen schwere, zeitgemäße Fragen auf – aber sie leben auch. Raphael Westermeier geht energisch umher als Gastgeber im Pädophilenparadies, mit gepflegtem Bart und Zylinder; Laura Sauer ist seine nicht minder energische, harte Gegenspielerin. Jürgen Herold, ganz in Weiß, verliert sich in unschuldigen Spielen, strahlt vor Glück; Mattea Cavic erschafft eine erstaunliche Verkörperung von Kindlichkeit. Gotthard Sinn schließlich gibt den bitter zergrübelten Doyle ganz wunderbar.
Keine dieser Figuren ist eindimensional gezeichnet, einfachen Antworten verweigert sich »Die Netzwelt«, überrascht mit interessanten Wendungen, tauscht und verdoppelt auch auf der Bühne die Rollen. Und zuletzt steht die Frage, wie Menschen sich in virtuellen Welten nahekommen, sich überwinden können, geradezu anrührend im Raum.