Das Gruslige, das Bizarre – es verstört, aber es fasziniert eben auch. Michael Miensopust vom Jungen LTT inszeniert E.T.A. Hoffmanns schwarzromantisches Schauermärchen von 1817 für den Abendspielplan in effektvollen, psychedelischen Bildern.
Nathanael ist ein aufgeweckter Student, wird aber eines Tages vom Sandmann heimgesucht. Den es ja gar nicht gibt. Den er aber in seiner Kindheit dermaßen eingebläut bekommen hat, dass er ihm als Mustermann für alles Böse, Verführerische, Faszinierende, Verbotene und Gruselige herhält. Die dunkle Seite der Macht. Von der man eh nie genau weiß, ob es sich nur im eigenen Kopf abspielt.
Eines Tages jedenfalls steht der Optiker Coppelius vor seiner Haustür und will dem Nathanael eine bessere Sicht auf die Welt verkaufen. Ist es eine rosa Brille? Oder eine verfälschte Sicht? Eine gefährliche Wahrnehmung? Eine kranke Weltanschauung?
Nathanael ist sofort getriggert und fällt in eine posttraumatische Belastungsstörung. Denn Coppelius erinnert ihn an Coppola, den dämonischen Freund seines Vaters, mit dem dieser damals im Keller mysteriöse Experimente durchgeführt hat. Coppola war ein Kinderschreck. Wie der Sandmann, der kommt, um Kindern die Augen wegzusandeln, wenn sie nicht schlafen wollen.
Nun vermischen sich in Nathanaels Kopfgruselkino Aberglaube, Ammenmärchen und Schauergeschichten aus seiner Kindheit mit der Realität zu einem giftigen Psycho-Cocktail. Seine vernünftige Freundin Carla weiß Rat: Wenn es eine dunkle Macht gibt, geben wir ihr nur Kraft, wenn wir intensiv an sie glauben. Deshalb bedarf es nur eines heiteren und festen Sinnes, um dagegen anzukämpfen. Auf (tiefen-)psychologischer Ebene ist Nathanael ein „zerrissener Geist“ ohne bestimmtes Label, ein ganz normaler Egomane mit bipolarer Störung, Panikattacken und Selffulfilling-Prophecy-Problematik.
Auf literarischer Ebene ist er eine Figur, in der sich der phantastisch-gruselige Intertext über Klassik, Aufklärung, kalte Wissenschaft und radikalen Rationalismus lustig macht. Aus heutiger Sicht wiederum betrachtet bietet Hoffmanns schon tausendfach interpretierte Novelle nicht nur einen schönen Schulstoff, sondern auch eine Analyse von aktuellen Verschwörungstheorie-Erscheinungen. Und sie zeigt, wie Hirngespinste sehr real werden können. Und beschreibt unsere Faszination für das Gruselige, Bizarre, Kranke und Abartige, das wir so gerne von uns abspalten.
Jedenfalls ist die Story samt ihrer oft widersprüchlichen Figuren, Motive und Symboliken vielfach deutbar. Auch die gutaussehende Inszenierung von Michael Miensopust lässt das alles angenehm offen, bietet inspirierende, ausdrucksstarke und psychedelische Bilder. Miensopust hat Hoffmanns multiperspektivischen Briefroman-Erzähl-Text stark vereinfacht. In kurzen, knappen Sätzen wird geschildert und dialogisiert. Stellungsspiele, Körpersprache, Licht- und Schatteneffekte, choreographische und pantomimische Elemente, leicht künstliche Moves verbreiten so gruselige wie verfremdete, ironische Stimmung.
Wir sind in Nathanaels Kopfzimmer und hören Stimmen, bedrohliche Sounds und gruselige Geräusche (Musik: Christian Dähn). Über der Wand taucht ein Erzählerchor auf, der genauso schnell wieder verschwindet, wie die Figuren in Nathanaels Welt.
Ausstatterin Christine Brunner-Fenz hat auf der schrägen Bühne diverse Schlupflöcher in die Wände bauen lassen, durch die nicht nur die Figuren, sondern auch Möbel, Pflanzen, Lampen auftauchen oder wieder weg gesaugt werden, ein toller Effekt.
Henry Brauns frischer, beweglicher, kämpferischer, aber auch verletzlicher und panischer Nathanael ist starken Stimmungsschwankungen unterworfen. Wenn Angst und Grauen von ihm Besitz ergreifen, sieht er sich ganz real hin- und hergeworfen, presst sich auf den Boden oder in die Ecke. Ein ganz anderes Bild liefert Clara (Angelina Berger) ab, seine Freundin, die das himmlische, engelsgleiche, heitere Prinzip verkörpert: Tanz, Freude, Geborgenheit, Vernunft, Biederkeit, Langeweile. In Miensopusts Ausführung und aus Nathanaels psychotischer Sicht hat aber auch Clara mit ihrem puppigen Rock und den Schleifchen etwas Lebloses, auch wenn sich noch so gütig, so angstfrei und umsorgend gibt: Durch ihre Augen blickt Nathanael der Tod an.
Ein weiteres künstliches Wesen aus dem Wachsfigurenkabinett (oder dem Alchimie-Keller) ist Olimpia, ein Produkt der Wissenschaft: Magdalene Flade als Sexmaschine in Grün, mit der Nathanael einen schräg-kaputten Tango tanzt. Sie karikiert den Perfektionismus und die Leblosigkeit der Klassik, aber auch die Idealvorstellung vom Weib (aus Sicht der Männer): Sie sieht gut aus und sagt nix. Coppola ist ein düsterer Zausel mit Strandverkäufer-Mantel und höhnischer Lache (Rupert Hausner). Andreas Laufer versucht als Freund Siegmund ebenfalls, das Schlimmste zu verhindern. Aber Nathanael ist längst in seine eigene Alptraumwelt abgedriftet.