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Schauspiel nach dem Film von Aki Kaurismäki · Deutsch von Maria Helena Nyberg
Schwarzwälder Bote, 11. Oktober 2017
Durchkomponiertes Spiel voller Rhythmik, Witz und kreativer Ideen
(von Christoph Holbein)
Das Stück „Der Mann ohne Vergangenheit“ schöpft aus den Möglichkeiten des Theaters / Regisseur sorgt für klare Bilder
Um eines vorweg zu nehmen: Die Inszenierung des Schauspiels „Der Mann ohne Vergangenheit“ nach dem Film von Aki Kaurismäki am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) ist ein wundervolles Theatervergnügen trotz des ernsten Themas. Regisseur Christoph Roos entlockt seinen Protagonisten einiges an Spielfreude, die im Bühnenbild von Timo von Kriegstein enorm viel Spielfläche voller Variabilität eröffnet bekommt. Vor der Silhouette eines Überseehafens in Form eines überdimensionalen Fotos bieten Leitern, krummes Gestänge, Garagentor und Wellblechwände facettenreiche Möglichkeiten des Auf- und Umbaus, der als Teil des Geschehens auf offener Bühne zu einem pantomimischen Stilmittel in die Inszenierung integriert ist. Das ist clever und genial gelöst. Mit zu dieser dichten Atmosphäre trägt die stimmige Musik von Markus Maria Jansen bei. Sie untermalt die Szenen und steigert sich in der Auftaktszenerie immer schneller werdend fast bis ins Unerträgliche.
Skurrile Typen agieren in der Handlung, manchmal kindisch, manchmal clownesk; viel passiert im nonverbalen Spiel miteinander – mitunter grob, fast als Kasperletheater, dann wieder komödiantisch und wie im Märchen. Rohre in verschiedenen Größen werden verfremdet - beispielsweise als Biergläser - zu Requisiten. Dadurch entstehen groteske Szenen, die aus diesen witzigen Einfällen leben. Etwa, wenn die Darsteller in dieser Containerwelt abwechselnd den Hund Hannibal spielen mit Hecheln, Kläffen und Schnappen nach der Quietschente. Fein beobachtet ist das.
Es sind diese humorvollen Momente, welche die Inszenierung ausmachen: Wenn durch das Drehen an den verschiedenen Glühbirnen der Gartenfest-Lichterkette unterschiedliche Musik angeschaltet wird und ertönt. Dem „Mann ohne Vergangenheit“, der überfallen und ausgeraubt nach einer Zugfahrt und von einem Arzt für tot erklärt sich plötzlich erinnerungslos in einem zweiten Leben findet, gibt Schauspieler Rolf Kindermann dabei eine ganz besondere Farbe mit seinem intensiven Spiel: mal klassisch, fast wie in einer Shakespeare-Komödie artikulierend, mal verzweifelt und dann wieder romantisch verliebt. Das restliche Ensemble gruppiert sich kongenial darum herum: mal schräg und schrill, mal leise und tragikomisch.
Regisseur Roos sorgt für klare Bilder, die verständlich sind, komödiantisch bunt und gleichzeitig fein gezeichnet. Er inszeniert stringente Szenen mit viel Drive und innerer Spannung, aber auch mit großer Intimität und leiser Komik - rhythmisch, gewürzt mit kleinen Nuancen und zarten Details. Das Ensemble nimmt das auf und spielt mit dem notwendigen Tempo und variabel in der Umsetzung. Roos greift dabei tief in den Fundus theaterpädagogischer Spielmittel und inszeniert interessant. Das ist äußerst kreativ und steckt voll vieler Ideen. Das Geschehen auf der Bühne wippt im Takt der Musik mit, durchkomponiert, entwickelt selbst einen Rhythmus und in der griffigen Choreografie das richtige Gefühl für die Geschwindigkeit und die Tempowechsel.
Alles wirkt ein wenig surreal, manchmal laut und schrill, aber immer kurzweilig und amüsant. Die Szenen sind in plastisch-plakative Bilder gegossen, etwa wenn der Rechtsanwalt wie ein Engel und Heilsbringer des Himmels von oben herab in die Szene einschwebt. So etwas ist dann auszelebriert, driftet vielleicht sogar ins Alberne ab. Aber Regisseur Roos schafft diese Gratwanderung, offeriert als Gegenpart sensible und melancholische Szenen, und am Schluss gibt es als Gegenmittel gegen die Traurigkeit und deprimierende Realität ein Happy End.
Reutlinger Nachrichten, 6. Oktober 2017
(von Kathrin Kipp)
Heilsarmee trifft auf Rock’n’Roll und auf blecherne Slum-Idylle: Christoph Roos bringt am LTT Aki Kaurismäkis Anti-Hollywood-Märchen „Mann ohne Vergangenheit“ auf die Bühne
Totgesagte leben länger. Auch der namenlose Mann, der als Leiche im Keller eines Krankenhauses abgelegt wird, kommt wieder zu sich, kann sich allerdings nicht an sein bisheriges Leben erinnern. Am Hafen von Helsinki bezieht er einen blechernen Container und erfährt von seinen Hütten-Nachbarn Hilfe und Solidarität, während er als identitätslose Datennull im Sozialstaat immer wieder gegen geschlossene Blech-Wände läuft.
Aki Kaurismäki hat den Film 2002 mit seiner typisch trostlosen Anti-Hollywood-Ästhetik gestaltet: schäbige Industrie-, Armenviertel- oder Imbiss-Tristesse mit atmosphärischen Bildern von Kälte, Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit. Schräge Typen mit kargen Gefühlen. Aber die Geschichte vom verlorenen Mann bleibt keinesfalls im Opfer-Kitsch stecken. Denn trotz seiner aussichtslosen Lage - ohne Name kein Job, kein Geld, keine Wohnung, kein Rechtsstatus - wird er von seiner unaufgeregten Umgebung so akzeptiert, wie er ist. Bei den Assis wundert sich keiner mehr über irgendwas, alles Sonderbare wird als normal empfunden – auch eine Form von Freiheit.
Christoph Roos (Regie), Timo von Kriegstein (Ausstattung) und Markus Maria Jansen (Musik) positionieren das episodisch, oft nur pantomimisch, und manchmal auch ein wenig albern erzählte Märchen vom Wiederaufstehmännchen auf Daseinsberechtigungssuche in eine Wellblech-Idylle. Eine Idylle, weil alle so freundlich sind, sogar die Kampfhunde – außer der fiese Container-Vermieter (Daniel Tille) natürlich, der die Garagen zu Wucherpreisen vermietet. Auch der Zuschauer hat keinen Schimmer, was mit dem Namenlosen (Rolf Kindermann auf der Suche nach einem Charakter) passiert sein könnte. Christoph Roos deutet mit seiner metallindustriell durchchoreographierten Ouvertüre das Herkunftsmilieu des Vergangenheitslosen an: Arbeiter mit Schweißer-Masken hantieren und klappern mit allerlei Blech, Leitern und Rohren, der (musikalische) Akkord steigert sich, bis der Einzelne nicht mehr mithalten kann. In so einem durchgetakteten Leistungssystem kann es einem die Identität schon mal zerbröseln. Und so wird aus dem zermalmten Industriegewaltopfer ein verlorenes Menschlein, das versucht, sich von ganz unten aus wieder so etwas wie eine Zukunft aufzubauen. Er findet wieder zu seinem (Rock‘n‘Roll-)Groove, steckt ein paar Kartoffeln in seinen Mini-Acker und bemüht sich um Arbeit. Die Wellblechwände, Leitern und Rohre ziehen sich dabei lautstark durchs ganze Stück: eine sehr blecherne, brüchige, aber auch lebendige Kulisse für den krassen Neuanfang mit Hindernissen. Die Dialoge, Gefühle und Psychologie der Figuren sind aufs Mindeste reduziert: poetisch oder nicht - es ist wohltuend, wenn man als Zuschauer mal nicht so sehr zugetextet wird.
Im Vordergrund steht Rolf Kindermann, dessen Figur als nichtregistrierte, orientierungslose Existenz nie so recht weiß, wie ihm geschieht. Ein freundlicher Elektriker (Robin Walter Dörnemann) besorgt ihm Licht und Garagenmusik, die Heilsarmee anständige Klamotten. Mit ihren Uniformen und frommen Liedern sind die friedfertigen Gottessoldaten nicht nur ein Quell der Freude und Hilfe, sondern wie so oft auch Zielscheibe für allerlei Spott, haben sie doch nur einen einzigen Song im Repertoire: „Großer Gott, wir loben dich“, den das Ensemble herzallerliebst mehrstimmig zum Vortrag bringt. Aber auch die braven Heilsarmisten werden von den Outlaws so akzeptiert, wie sie sind: anderen helfen, auch wenn man sich selbst keine einzige Freude gönnt. Susanne Weckerle als Suppenschöpferin Irma entspricht genau dieser strengen, spaßfreien und entbehrungsreichen Klischee-Protestantin.
Darf aber nun immerhin ihre „erste Liebe“ und ein wenig Rock‘n‘Roll erfahren, ausgerechnet mit einem Mann, der nicht weiß, wer er ist: eine brüchige Angelegenheit, schließlich kann sich ja jederzeit die Vergangenheit zurückmelden. Aber sie haben Glück: der Mann hatte zufällig gerade mit seiner Vergangenheit abgeschlossen, wie sich herausstellt. Andreas Guglielmetti gibt ihm außerdem als versoffener, aber hilfsbereiter Nachbar Starthilfe, während Mattea Cavic als Abweiserin die Kälte von Staat und Bank repräsentiert. Aber es geschehen auch Wunder: in Form eines Anwalts (Heiner Kock), der als Spezialeffekt vom Himmel herabgelassen wird, um dem Mann juristisch beizustehen: Nochmal Glück im Unglück.
Schwäbisches Tagblatt, 2. Oktober 2017
Steh auf und wandle und dreh mich nach oben
(von Peter Ertle)
Am LTT wird aus Aki Kaurismäkis 15 Jahre altem Filmmärchen "Der Mann ohne Vergangenheit" ein dem Autorgestus sanft folgendes, überraschend aktuelles Theaterstück übers Fremdsein, rechte Schläger, die Güte der Menschen und die Kälte des Kapitalismus.
Was da eingangs auf der Bühne (Timo von Kriegstein) tobt, sind Bauarbeiten, peitschend hart knallt das Metall. Die Schweißermasken könnten allerdings auch Masken einer Schlägerbande sein, die Rohre Knüppel. Ja, irgendwie sieht das hier auch aus wie Leistungsgymnastik einer sich ertüchtigenden Gesellschaft, vielleicht Wehrsportgruppe H., H für Helsinki. Irgendwann läuft die Musik am Band immer schneller und wie der Mensch in Chaplins "Moderne Zeiten" dem Fließband nicht mehr hinterherkommt, kollabiert er auch hier, der Mensch, zumindest einer. Ob ihn daraufhin seine Kollegen zusammenschlagen oder ob er, so legt es das Stück später nahe, nach einer Zugfahrt verprügelt wird, die Eingangsszene lässt es im Ungefähren. Was sie nicht im Ungefähren lässt: Die Gewalt, die der Mensch dem Menschen antut. Und die Gewalt eines unmenschlichen, sozial ungerechten Fortschritts.
Die Folgen: Ein Toter. Der Arzt lässt nach Feststellung des Todeszeitpunkts die Schuhe des armen Kerls mitgehen, er muss schnell weiter, zu einer Entbindung. Die Schuhe sind einige Nummern zu groß für ihn, eine schöne Symbolik: Unser toter Mann erreicht im Folgenden unerreichbare moralische Größe. Ja, im Folgenden, denn kaum ist der Arzt weg, steht der Mann auf. Das ist sie vielleicht schon, die angesprochene Entbindung: Eine Auferstehungsgeschichte.
Also muss er erst mal die Leiden der Welt auf sich nehmen, mit dem Verprügeltwerden hat er noch längst nicht abbezahlt. Köpflings einbandagiert, unter vollständigem Gedächtnisverlust leidend, also ohne Namen, ohne Vergangenheit, lernt er sie nun kennen, die Pein der Welt, die Gemeinheiten, die man ganz unten erleidet, sans papiers, namenlos. Aber auch die Freuden, die Güte der Menschen. Manchmal vermischt in einer Person wie dem warmen Halsabschneider Anttila und seinen verschmusten Höllenhunden. Anttila (Daniel Tille) gibt ihm die erste Unterkunft. Später wird er mit Kleiderspenden ansehnlich gemacht, was die Bühne mittels einer großen Kulissenschieberei passend untersützt. Hier werden oft die richtigen Bilder gefunden.
Barackenunterkunft, Kleiderspenden - solche Szenerie war in den letzten zwei Jahren ein Brenpunkt, gehörte zu unserem Alltag: Menschen ohne Pass, mit uns unbekanntem Vorleben, Verfolgte, Geflüchtete, die Ansprache, Unterkunft und etwas Warmes brauchten. Und wenn möglich Arbeit. Aber: Keine Papiere, keine Arbeit, kein Geld. Unserem Mann auf Arbeitssuche schlagen alle Türen vor der Nase zu.
Dass der Paragraphendschungel später dann auch mal andersrum läuft, ein oberster Richter ex machina engelsgleich der irdischen Judikative die juristischen Leviten liest und den Namenlosen rettet, passt in das ambivalente Schema, das Kaurismäki hier vorführt. Er weiß um die Flüche wie die Segnungen der Zivilisation, er kennt die Bosheit und die Herzensgüte der Menschen. Und zumindest in diesem Stück wird jedes Unglück mit einem Glück ausgeglichen. Die Heilsarmee gibt ihm zu essen. Der Elektriker, der die Leitungen in der Baracke legt, will als Lohn nur: "Wenn du mich mal mit dem Gesicht nach unten im Straßengraben siehst, dreh mich nach oben."
Bei Kaurismäki, dieser Mixtur aus Brecht, Chaplin und viel langsamer, finnischer Schwermut wird oft über das dumpfe Schweigen geschrieben und dabei die Grazie, ja Höflichkeit vieler seiner Figuren übersehen. Wenn der Konkurrent in Liebesdingen nach Klärung des Konflikts dem Rivalen gentlemanlike anbietet, ihn zum Flughafen zu fahren, wenn der Bankräuber sich bei den Überfallenen entschuldigt und die sich bei ihm für alle Unannehmlichkeiten - welche Schule der Höflichkeit!
Als Bankraubkulisse reicht hier eine nach oben gestellte - Bank! Die Reduktion ist Programm. So wie der Namenlose mit Wenigem auskommen muss, erprobt die Inszenierung hier, was mit Wellblech, Eisenstangen und Leitern so alles anzufangen ist, zaubert komische Riesenbiergläser, stiftet Krankentransporte auf Rollen, markiert Türen, macht alles auf einen Schlag Gestänge-luftig oder flächig verrammelt. Und vielleicht sollten in Zukunft anstelle der beiden Feuerwehrmänner technische Bühnenaufseher in der ersten Reihe sitzen. Denn wenn die einen Meter weiter vorn postiert gewesen wäre, wäre dort ein Zuschauer von einer umfallenden Eisenstange getroffen worden. Glück gehabt.
Auch unser Namenloser hat Glück. Nicht nur, dass er seine Liebe trifft, (beim ersten Blickwechsel mit ihr stockt der Heilsarmee gleich der Sangesatem), er kommt auch noch über Umwege an einen Rucksack voller Geld. Von dem er sich, da sind wir uns sicher, nur seinen Anteil nehmen wird, den Rest wird er wie ein neuzeitlicher Robin Hood im Ausgleichskampf gegen kapitalistische Humankapitalschäden an die unrechtmäßig Enterbten weitergeben. Ein Held, von dem wir am Ende erfahren, dass er in seinem Vorleben ein ehezerstrittener Spielsüchtiger war. So sehen Helden bei Kaurismäki aus: Auch ganz erbärmlich normal.
In einem Schlenker zum Bankraub wird einem über Schweizer Nummernkonten und verlagerte Industriezweige rasch mal das Gebaren des Finanzkapitals vor Augen geführt, vor der Folie unseres hin und her geschubsten Habenichts wirkt das besonders unmoralisch. Christoph Roos' Inszenierung tut alles dafür, genau diese kapitalismuskritische Seite so en passant wie deutlich zu beleuchten. Auch die schon bühnenbildnerisch präsente und dann in kleinen Signaldetails gebaute Analogie zur Flüchtlingssituation ist unaufdringlich unübersehbar.
Darüberhinaus leistet sich der Abend Theaterspäße, die als Bühnenübersetzung des filmischen Kaurismäkikosmos sofort einleuchten: Mattea Cavic, Heiner Kock und Robin Walter Dörnemann dürfen alle mal Hund spielen - als wär's eine Übung auf der Schauspielschule.
Was das berühmte Schweigen, die Längen und die Staubtrockenheit der Dialoge beim finnischen Filmemacher angeht, fährt die Inszenieurng einen Kompromiss. Eine Kauriusmäki-analoge Bühnenadaption wäre vermutlich ein Juwel für Liebhaber geworden, unter Ausschluss eines großen Teils des Publikums. Und der Kritiker hätte gemäkelt: Kaurismäki kann man eben nicht kopieren. Hier nun wird die Filmsprache, der Gestus mit Sehgewohnheiten des Theaterpublikums versöhnt - das geht schon in Ordnung.
Aber zurück zum Namenlosen: Er ist also Pechmariechen und Glückmariechen in einem. Und - wir erwähnten es bereits - auch ein Erlöser und Verführer zum Guten. Vor allem erlöst und verführt er die Heilsarmeekapelle von ihrem langweiligen Danketdemherrn zu Rhyhm&Blues. Eine kulturelle Bereicherung und Teil eines Happy Ends, das die Not der Hauptfigur nicht vergessen macht. Rolf Kindermann fügt seiner bisher großen Performance am LTT mit der Rolle des gut gebliebenen, einfachen Menschen die nächste hinzu, Susanne Weckerle gibt mit unglaublicher Sanftmut, keuscher Zurückhaltung und innerlichem Erbeben eine Mutter Maria in first love. Daniel Tille und Robin Walter Dörnemann bubeln clownesk. Und wie ihre Kollegen Heiner Kock, Sabine Weithöner und Mattea Cavic tuschen auch sie gleich mehrere Rollen auf die Bretter.
Der Einfall mit der Musik (Markus Maria Jansen) und der technischen Feinabstimmung zwischen den Glühbirnen und den Jukeboxliedern wiederum dürfte als einleuchtendes Beispiel für das spielend Wunderbare in keinem Trailer dieser Inszenierung fehlen.
Unterm Strich
Die Bankenkrise war 2002 noch sechs Jahre entfernt, die rechte Szene in Europa noch vergleichsweise klein. Aki Kaurismäki dachte mit seinem Film auch sicher nicht an Flüchtlinge, hier denkt man automatisch dran und erlebt im "Mann ohne Vergangenheit" schon die Ambivalenz mitmenschlicher Willkommenskultur und aggressiver Fremdenfeindlichkeit. Von Oberspielleiter Christoph Roos feinfühlig umgesetzt.
Reutlinger Generalanzeiger, 2. Oktober 2017
Durch und durch eine ehrliche Haut
(von Christoph B. Ströhle)
Christoph Roos inszeniert Aki Kaurismäkis Märchen »Der Mann ohne Vergangenheit« am LTT in starken Bildern.
Die Mär vom »guten Menschen« ist schon häufiger auf Bühne und Leinwand erzählt worden, nicht zuletzt von Bertolt Brecht. Auch Aki Kaurismäki erzählt sie in seinem lakonisch-poetisch gehaltenen Sozialdrama »Der Mann ohne Vergangenheit« aus dem Jahr 2002. Im großen Saal des LTT in Tübingen hat das Stück des finnischen Filmemachers am Freitagabend in einer Bühnenfassung viel bejubelt Premiere gefeiert.
Blog: Charlottes Theaterpassion, 2. Oktober 2017
Ohne Vergangenheit aber mit Hund
(von Charlotte)
Wir haben eine Vorstellung davon, wer wir sind und wer wir sein wollen. Wir bestimmen, wie wir uns verhalten, was wir mögen und was uns zuwider ist. Wir erleben uns in Situationen und Verhaltensweisen und stehen an dem einen oder anderem Punkt aufgrund unserer Vergangenheit. Manchmal ist man in dem immer gleichen Trott als Teil eines Ganzen gefangen und manchmal wünscht man sich alles beiseite zu schmeißen und auszubrechen. Die Vergangenheit ungeschehen machen, sie vergessen und neu anfangen.
Was passiert aber, wenn wir es uns nicht aussuchen können, was und wie viel wir vergessen, was wenn wir aufwachen und nichts sind, niemand. Keine Erinnerung, keinen Namen, keine Persönlichkeit. Nichts.
Mit genau dieser Vorstellung spielt die Inszenierung "Der Mann ohne Vergangenheit" nach dem Film von Aki Kaurismäki am LTT.
Und da haben wir ihn nun, unseren Mann ohne Vergangenheit, der verlorener nicht sein könnte und mit der inneren Leere klar kommen muss. Was macht man, wenn man nicht weiß wer man ist, wie man heißt oder wo man geboren wurde. Wie soll man ankommen, wenn nicht weiß, woher man kommt, wo der eigene Ausgangspunkt ist?
Gerade dieser Mann, der von Rolf Kindermann gespielt wird, der mit hängenden Schultern da steht und eine Unsicherheit und Verwirrung durchläuft, die ihn in dieser Szenerie so fehl am Platz wirken lässt. Ja gerade dieser Mann wird nun mit einer Gesellschaft konfrontiert, die so gar kein Mitgefühl und Verständnis für ihn hat, die sich selbst durchschlagen muss und grob und unnahbar wirkt. Und gerade dieses Grobe und dieser Bruch der Gesellschaft spiegelt sich auf der Bühne wieder. Die ganze Szenerie wirkt kaputt und trist. Wir sehen im Hintergrund eine Gegend, die verblasst, alt und rau wirkt. Die zerbricht und an den Kanten abgenutzt ist. Die vernachlässigt und allein gelassen wurde, sich selbst überlassen wurde. Oder vielleicht auch eine Vergangenheit, die zerbrochen ist?
Genau diese Tristheit, die die Bühne in einheitlich verblassten Farben und verrosteten Überbleibseln zeichnet, ist Programm für die Menschen, die wir kennen lernen.
Was macht man nun, wenn man als Niemand in einer Gesellschaft ankommt, die ihre eigenen Probleme und Sorgen hat. Stellen wir uns das doch einmal vor, unwillkommen zu sein, hilflos und einsam.
Die Inszenierung erinnert uns daran, dass die banalsten Dinge, wie eine Unterschrift, plötzlich zur ungeheuren Herausforderung werden können. Doch wenn man keine Vergangenheit hat, dann bleibt einem nur noch die Zukunft, man hat ja keine Wahl. Und genau das zeigt uns die Stärke unseres Protagonisten, der versucht Ordnung in die Situation und seine Zukunft zu bringen. Der nicht einfach aufgibt, sondern sich eine Unterkunft sucht, versucht Arbeit zu finden und sein Leben wieder zu seinem eigenen zu machen. Dass er dabei immer wieder scheitert und aneckt ist vorprogrammiert.
Jedoch zwischen all den Niederlagen, dem Groben, der Gruppe von Menschen, die im selben Muster stehen geblieben ist und sich selbst an erster Stelle sieht, sehen wir kleine, fast schon übertrieben wirkende Momente und Wortspiele, die dieser Inszenierung die notwendige Lebendigkeit zurückgeben. Sei es die kleine rollende "Bank" oder die gefürchteten Hunde, die sich nur nach Streicheleinheiten sehnen. Sowieso bekommt man kurzzeitig das Gefühl, dass jeder, der wollte, einmal den Hund spielen durfte. Wer hat noch nicht, wer will nochmal?
Aber zwischen all dieser Komik, die der Verlorenheit entgegenwirkt, sehen wir eine Liebesgeschichte, die mit nur einem Blick beginnt und fast wortlos ihren Lauf nimmt. Vielleicht ist es auch diese Liebe, die unseren Namenlosen vorantreibt.
All diese wortkargen Augenblicke, die in dieser Inszenierung aus der Filmvorlage von Aki Kaurismäki übernommen wurden, passen einerseits zu der Szenerie und dem Menschenschlag, den wir sehen. Andererseits werden die stillen wortlosen Momente durch Hintergrundmusik ersetzt, die versucht, Situationen und Emotionen zu verdeutlichen. Diese Musik fängt bei christlichen Liedern der Heilsarmee an und wird dem Rock´n´Roll gegenübergestellt. In dieser Inszenierung geht es aber nicht darum, wie ein namenloser Mann eine Band an den Rock´n´Roll heranführt. Und auch die Bildsprache wird erst durch die musikalische Untersützung lebendig. Zu Beginn des Abends werden wir mit einer marionettenhaften Performance konfrontiert, die uns allerdings durch ihre Bewegung und Dynamik ganz von alleine in die Geschichte hineinführt. Diesen Schwung verliert die Inszenierung an manchen Stellen.
Nichtsdestotrotz zeigt uns die Inszenierung von Christoph Roos einen Mann in einer Situation, die nicht verzweifelter und verlorener sein könnte. Und ausgerechnet dieser Mensch schafft es dieser grauen, tristen und in ihrem Trott verfahrenen Truppe wieder Leben einzuhauchen.
Vielleicht ist das auch ein kleiner Warnschuss, sich selber einmal zu überlegen, wer man ist und wohin einen das Verharren in der Vergangenheit gebracht hat.