Justin Hibbeler · Foto: Martin Sigmund
Justin Hibbeler, Julia Staufer, Dennis Junge · Foto: Martin Sigmund
Hannah Jaitner, Insa Jebens, Dennis Junge, Rolf Kindermann, Davíd Gavíria, Justin Hibbeler, Julia Staufer · Foto: Martin Sigmund
Davíd Gavíria · Foto: Martin Sigmund
Hannah Jaitner, Justin Hibbeler, Davíd Gavíria · Foto: Martin Sigmund
Rolf Kindermann, Justin Hibbeler · Foto: Martin Sigmund
Dennis Junge, Davíd Gavíria, Justin Hibbeler · Foto: Martin Sigmund
Julia Staufer, Insa Jebens, Davíd Gavíria · Foto: Martin Sigmund

Woyzeck

Dramenfragment von Georg Büchner · 16+


Schwäbisches Tagblatt, 22. Februar 2022

Gewalt-Fantasie im Theaterlabor

(von Achim Stricker)

Ein Bruch-Stück: Christiane Pohle inszeniert Georg Büchners „Woyzeck“ am LTT als Fragment-Collage.

Was tun mit Woyzeck? Als Georg Büchner 1837 im Züricher Exil mit nur 23 Jahren an Typhus starb, blieb sein letzter Theatertext als Torso zurück. 31 teils nur wenige Sätze kurze Szenen, unnummeriert, ohne Seitenzählung, zudem in vier unterschiedlich weit entwickelten Entwurfsstadien. Eine Materialsammlung kriminalistischer und medizinischer Fallgeschichten, darunter sogar wortwörtlich abgeschriebene Passagen aus einem Gerichtsgutachten. Es gibt keinen abgeschlossenen, fertigen Text und schon gar keine endgültige Fassung.

Was also tun mit Woyzeck? Man könnte nun die Bruchstücke zu einem logisch stringenten Ganzen ordnen, dabei Entscheidungen über „Wichtiges“ und „Unwesentliches“ treffen, „Haupt“- und „Neben“-Figuren“ stärker herauspräparieren und somit Ordnung schaffen, wie das etwa Alban Berg in seiner Opern-Vertonung „Wozzeck“ getan hat.

Oder aber – wie Christiane Pohle bei ihrer Inszenierung am LTT, die letzten Donnerstag Premiere feierte – man zerlegt das Fragment konsequent in seine Einzelteile. Dekonstruktivistisches, postdramatisches Theater, das den Körper mit seiner physischen Präsenz gegen den Text ausspielt.

Zu Beginn gleich programmatisch fast zehn Minuten lang textlose körperliche Aktionen zu Steve Reichs minimalistisch wummernden Marimba-Schlägen. Über den Boden rollen, springen, stürzen, Handstand, sogar auf den Händen laufen. „Echte“ Menschen in ihrer Anstrengung und Erschöpfung statt fiktiver Figuren mit gespielten Emotionen.

Ebenso minimalistisch das Bühnenbild (Bühne und Kostüme: Charlotte Pistorius): eine abweisend karge Zuschauertribüne, grobes Holz und Plastikwelldach, davor lässt sich ein stock- und wasserfleckiger Vorhang zuziehen. Nach hinten offen, kann man an der Bühnenrückwand die Versorgungsrohre und den Feuerlöscher sehen.

Ähnlich nackt und bloß, buchstäblich verwaist steht Büchners Text zwischen den Schauspieler-Körpern auf der Bühne. Sperrig und unhandlich wie auch schon der Darmstädter Zungenschlag in Büchners Text, ein hessisch gefärbter Kunstdialekt.

Am klarsten konturiert sind die zentrierenden Figuren Woyzeck (Justin Hibbeler mit charismatischer Präsenz) und Marie (Julia Staufer, eindrucksvoll ihr stoisch vielsagender und doch undurchdringlicher Gesichtsausdruck), theatrale Fixpunkte in dieser wirbelnden Performance-Revue.

Büchners Doktor-Figur ist hier aufgespalten in Herr und Frau Doktor (Rolf Kindermann und Hannah Jaitner), sich selbst zum Dialog geworden. Büchners Hauptmann wird zu einer Wellness-versnobten Frau Hauptmann (Insa Jebens), die sich von Woyzeck die Beine rasieren lässt.

Am stärksten lösen sich die Konturen einer „klassischen“ Figur bei Davíd Gavíria auf, der in gleitendem Rollenwechsel mal Woyzecks Freund Andres spielt, mal das gemeinsame (?) Kind von Marie und Woyzeck, dann wieder das Märchen der Großmutter erzählt oder mit Pferdemaske über dem Kopf als dressiertes Wundertier vorgeführt wird.

Viele Figuren, die in Büchners Fragment nur punktuell auftauchen, kommen in Pohles Inszenierung zu Wort, ohne dass sie als individuelle Figuren erkennbar wären. Der Theatertext läuft dann gewissermaßen quer durch die insgesamt sieben Schauspielerinnen und Schauspieler hindurch. Das macht Büchners ohnehin schon sehr nihilistisch düsteres Figuren-Panorama noch deutlich anonymer. „Dieweil der Tag lang und die Welt alt is’, können viele Menschen an einem Platz stehen, einer nach dem andern“, sagt Marie einmal. Der Mensch ist ein existentielles Einzelschicksal, aber letztlich austauschbar.

Ihre stärksten Momente hat diese Inszenierung, wo sie zur Körper-Performance wird, wo sie das Objekthafte dieser Welt, auch des menschlichen Körpers buchstäblich zur Schau stellt. Etwa Justin Hibbeler – Woyzeck als medizinisches Versuchskaninchen – im grellen Licht eines Overheadprojektors, auf dessen Glasfläche Frau Doktor in einer Petrischale eklig giftige Substanzen zusammenspritzt, die via Projektion ihre psychedelischen Schlieren über Hibbelers Körper ziehen.

Die Inszenierung selbst ist eine Versuchsanordnung, eine wild entfesselte szenische Fantasie im Theaterlabor. Es geht um Gewalt. Der Mensch als dressierte, zugerichtete, ausgebeutete und geschundene Kreatur. Eine Gewalt, die auch im Umgang mit Büchners Text sichtbar gemacht werden soll.

Die dekonstruktivistische Collage schneidet mitunter auch zwei verschiedene Szenen-Texte parallel. Eine Zerreißprobe an der Grenze zum Auseinanderfallen. Die Performance-Revue mit ihren aneinandergereihten, manchmal fast beliebig wirkenden physischen Aktionen dekonstruiert jeden dramat(urg)-ischen Spannungsbogen, stellt gleichwertig Szene neben Szene, Figur neben Figur.

Mancher Premierenbesucher im LTT-Saal – gemäß der Corona-Verordnung aktuell auf rund 180 Zuschauer begrenzt – mag bisweilen ratlos oder irritiert gewesen sein. Mit falschen Erwartungen käme hier sowohl der Theatergänger, der sich vom Schauspiel einfühlend verkörperte, illusionär „echte“ Figuren wünscht, als auch die Schulklasse auf der Suche nach einer werkgetreuen „Klassiker-Inszenierung“ (zumal ja ohnehin kein verbindlicher „Original“-Text existiert).

Dafür gibt Pohles Inszenierung mancher Begabung Raum, die sonst ungeahnt verborgen schlummert, wenn etwa Dennis Junge als Tambourmajor mit knallblauem Cowboyhut und vorgeschnalltem Glockenspiel den Trauermarsch aus Gustav Mahlers Erster Symphonie anstimmt oder mit Furor das Schlagzeug bearbeitet.

 

Unterm Strich

Experimentelles Performance-Theater für Experimentierfreudige. Ambitioniert und eigenwillig, mit enormem Schauspieler(-Körper-)Einsatz und musikalischen Überraschungen. Mit der dekonstruktiven Text-Collage kommt am besten klar, wer den Büchner-Text gut kennt und die theatralen Metamorphosen nachvollziehen kann. Oder wer ohne traditionelle Erwartungen kommt, loslassen und sich auf diese postdramatische Theater-Fantasie einlassen kann.


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