Susanne Weckerle · Foto: Martin Sigmund
Stephan Weber, Susanne Weckerle · Foto: Martin Sigmund
Susanne Weckerle, Stephan Weber · Foto: Martin Sigmund
Stephan Weber · Foto: Martin Sigmund
Susanne Weckerle, Stephan Weber · Foto: Martin Sigmund
Stephan Weber, Susanne Weckerle · Foto: Martin Sigmund
Stephan Weber · Foto: Martin Sigmund

Quartett

von Heiner Müller · 18+


Theater der Zeit, 3. April 2022

Krankhafte Leidenschaft in der Apokalypse

(von Elisabeth Maier)

Brigitte Maria Mayer inszeniert Heiner Müllers „Quartett“ am Landestheater Tübingen

Das Setting rückt in Zeiten des Kriegs in der Ukraine beklemmend nah. Heiner Müllers Drama „Quartett“ spielt in einem Bunker, nach dem Dritten Weltkrieg. Die Figuren aber begegnen einander in einem Salon in Zeiten des Ancien Regime, lange vor der Französischen Revolution. Im Angesicht der Apokalypse verhandeln die Verführer ihre krankhaften Beziehungsgeflechte. Leidenschaft ist ihre Waffe. Brigitte Maria Mayer, die Ehefrau des 1995 verstorbenen großen Schriftstellers Heiner Müller, wagt mit dem Stück aus dem Jahr 1981 ihr Bühnen-Regiedebüt am Landestheater Tübingen. Dabei hat sie nicht nur die vergiftete Beziehung des Paars im Blick, das der französische Dramatiker Choderlos de Laclos 1782 in seinem Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ verewigt hat.

Mit dem frischen Blick der Fotografin und Filmemacherin liest die 57-jährige Regisseurin Müllers sprachgewaltigen Theatertext, der sich tief in die Psyche der Protagonisten bohrt. Thorsten Weckherlin, Intendant der Landesbühne in der schwäbischen Universitätsstadt, hat Mayers Regiedebüt lange geplant und mit der Berlinerin vorbereitet. Wie in ihrer Film- und Fotokunst, die um Religion, sexuelle Identität und Mythos kreist, macht die Regisseurin auch am Theater den Anker des Glaubens fest.

Im Zentrum der Bühne ihres Bruders Gustav Mayer steht ein riesiger Altar, der in blutrotes Licht getaucht ist. Das wirkt wie eine Schlachtbank. Darüber hängt das hagere Fragment einer Christusfigur, zerbrechlich und totenstarr. „Jesus ist gefrorene Gewalt, um Liebe zu ermöglichen“, kommentiert die Künstlerin die Heiligenfigur. Ihr Zugriff auf den Text ist hoch aktuell. Die zu zaghaft aufgearbeiteten Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche schwingen in ihrer Regiepremiere ebenso mit wie sexueller Missbrauch und Mädchenhandel, die Jeffrey Epstein und der britische Prinz Andrew auch in der Gegenwart zu lange ungestraft praktizieren durften.

 

Diese vergewaltigte Unschuld verkörpern Henriette Weckherlin als Mädchen und Christoph von Reichenbach als Junge. Aus Rache wollen Merteuil und Valmont ihre Körper verschachern, wie das in der damaligen Adelsgesellschaft Usus war. Ihre erschütterten Gesichter sind nur auf Video zu sehen. In ihrem Theater- Debüt geizt die Regisseurin mit filmischen Bildern. Doch umso effektiver arbeitet sie damit. So kommt der Schmerz der Heranwachsenden, denen die Jugend geraubt wird, zum Tragen. Kivik Kuvik hat eine Videobühne in Form eines Triptychons geschaffen. Der sakrale Raum öffnet Horizonte in der tiefenscharfen Inszenierung.

In ihrer Rolle als Marquise von Merteuil verkörpert Susanne Weckerle zwar eine Verführerin, die mit dem eigenen Alter hadert. Zugleich zeigt die Schauspielerin aber die zerbrechlichen Seiten ihrer Figur, die in der Jugend selbst zum Opfer adliger Willkür würde. Das gilt auch für Stephan Weber, der seinen Vicomte de Valmont als brutalen Machtmenschen interpretiert, ihn aber mit feinen Stichen demontiert. In dem verzweifelten Rollenspiel, in das sich die beiden verstricken, sind sie am Ende allein. „Krebs, mein Geliebter“ - in den letzten Worten Merteuils hallt die entsetzliche Einsamkeit in der menschenleeren Welt nach.

Mir geht es um die Anbindung an den Mythos“, sagt die Regisseurin. Da spricht sie vom intensiven Austausch mit ihrem Mann Heiner Müller, der als politischer Dramatiker in der DDR und später im wiedervereinigten Deutschland die Gegenwart in der Geschichte spiegelte. „Mythos, das ist Gestern, Heute, Morgen.“ Und obwohl Müller sehr viel stärker den gesellschaftlichen Kontext im Blick hatte, gelingt Mayer ein Zugriff, der berührt. Der Beschleunigung der Mediengesellschaft setzt sie ein Theater des Erinnerns entgegen. Werte der Aufklärung haben im 18. Jahrhundert den festen Glauben an Gott zerstört. Heute ist es die digitale Fragmentierung, die Menschen aus Fleisch und Blut zu bloßen Avataren im Spiel der Clicks und Schlagzeilen verkümmern lässt. Brigitte Maria Mayers „Quartett“ bricht solche mediale Verkürzung nicht nur mit stärkerer Text- und Körperarbeit der Schauspielerinnen auf. Aus dem Kunstkörper der Jesusfigur rinnt Blut. So kleidet sie den Schmerz einer zerfallenden Welt in ein großes, sinnliches Endzeitgemälde.


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Wirkgewaltung und nicht selten verstörend

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Schlacht ohne Krieg

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Die Gier und der blutende Erlöser

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